Äthiopien

Zum Bleiben verdammt

Mit Israel verbunden: jüdisches Leben in Gondar Foto: Philipp Breu

Ohne genaue Kenntnisse des Ortes würde ein Besucher die Hatikva-Synagoge in Gondar niemals finden. Weder von außen noch von innen unterscheidet sich das Gebäude von den ärmlichen Wellblechhäusern der Umgebung. Einzig die drei bewaffneten Wachmänner und zwei Fahnenmasten stechen hervor: Die äthiopische Flagge weht hier neben der israelischen.

Rund 50 Männer und 50 Frauen haben sich an diesem Freitag zum Gottesdienst versammelt. Vor einigen Jahren waren es regelmäßig noch mehr als 500 Beter. So viele kommen inzwischen nur noch an Hohen Feiertagen wie Rosch Haschana oder Jom Kippur zusammen.

Nach mehreren großen Auswanderungswellen, die letzte davon im Jahr 2011, beherbergt Gondar heute die größte jüdische Gemeinde Äthiopiens. Da der Staat keine belastbaren Angaben über seine Bürger erhebt, lässt sich vieles nur grob schätzen. Man geht davon aus, dass heute noch höchstens 8000 Juden in Äthiopien leben, davon etwa 5000 im Raum Gondar. Die restlichen wohnen in der Hauptstadt Addis Abeba. Einst waren es knapp 100.000.

Im Vergleich zu vielen muslimisch geprägten Ländern Nordostafrikas und des Nahen Ostens ist Äthiopien, was die Religionszugehörigkeit betrifft, ein sehr tolerantes Land. Das mag auch daran liegen, dass etwa 60 Prozent der Einwohner äthio­pisch-orthodoxe Christen sind.

Im Vergleich zu vielen muslimisch geprägten Ländern Nordostafrikas ist Äthiopien religiös gesehen sehr tolerant.

Gleichzeitig ist Äthiopien jedoch sehr arm und unterentwickelt. Eine städtische Infrastruktur mit fließendem Wasser, Strom oder gar Internet gibt es nur in der Hauptstadt. Viele Äthiopier sehnen sich danach, durch wirtschaftlichen Erfolg sozial aufzusteigen, oder träumen davon, in einem anderen Land zu leben.

Während Ersteres den meisten verwehrt bleibt, hatten die Juden des Landes seit der Gründung des Staates Israel die Möglichkeit, Äthiopien zu verlassen und israelische Staatsbürger zu werden.

Bald nach der Gründung Israels im Jahr 1948 eröffnete die Jewish Agency ein Büro in Addis Abeba, um die Ausreise mehrerer Tausend Juden Äthiopiens vorzubereiten. Es wurden Luftbrücken organisiert, und in gecharterten Flugzeugen machten große Gruppen äthiopischer Juden Alija. Zu den bekanntesten Aktionen zählen unter anderem die Operationen Moses (1984/85), Salomon (1991) und Taubenflügel (2011). Seitdem hat die Jewish Agency ihre Arbeit deutlich zurückgefahren, und 2013 wurden alle Büros in Gondar geschlossen.

Seit die Jewish Agency ihre Zelte abgebrochen hat, werden Ausreiseanträge nur noch in Addis Abeba bearbeitet.

Die Behauptung stand im Raum, alle »echten« Juden, die vom Volk der Beta Israel abstammen, hätten nun das Land verlassen. Die Politik der Jewish Agency hat sich seitdem dahingehend geändert, dass man den verbliebenen Juden heute vorwirft, vor langer Zeit zum Christentum konvertiert zu sein und nun ihre jüdische Vergangenheit zu missbrauchen, um Äthio­pien zu verlassen und ihr Glück in Israel zu suchen.

Mehrere Jahre lang hat die Jewish Agency im Rahmen der Familienzusammenführung auch von diesen Gruppen noch Alija-Gesuche bearbeitet und die Antragsteller in einer jüdischen Schule in Gondar mit Sprach- und anderen Kursen auf die Ausreise und ihre Pflichten als israelische Bürger vorbereitet.

ausreise Seit die Jewish Agency ihre Zelte abgebrochen hat, werden Ausreiseanträge nur noch in Addis Abeba bearbeitet, in einem Büro mit deutlich kleinerer Belegschaft als früher. Gegenüber dieser Zeitung wollte sich die Jewish Agency nicht dazu äußern, was mit den rund 8000 Menschen im Land passieren soll, die von sich behaupten, Juden zu sein, und auswandern möchten.

Fast jeder von ihnen hat Verwandte oder Freunde in Israel. So auch Emite Hailu, die seit Jahrzehnten mit ihrem Mann Woldu Menesha jeden Freitag zum Beten in die Synagoge nach Gondar kommt. Wie viele Äthiopier kennt sie ihren genauen Geburtstag nicht, sie sagt aber, dass sie etwa 60 Jahre alt sei und ihr Mann um die 70.

»Wir wünschen uns Hilfe von Israel, aber es kommt leider keine, sagt eine Beterin.

Die kleine Frau wohnt gleich rechts neben der Synagoge. Sie sagt: »Wir wünschen uns Hilfe von Israel, aber es kommt keine. Meine Kinder konnten zwar ausreisen, aber hier in Äthiopien gibt es keinerlei Unterstützung. Seit das Büro der Jewish Agency geschlossen ist, kann ich nicht einmal mehr die Zusammenführung mit meinen Kindern beantragen.«

Die achtstündige Fahrt zum Büro in Addis Abeba kann sich Emite Hailu nicht leisten, denn sie hat keine Arbeit. Vor einigen Monaten protestierten dort, in der einzigen anderen aktiven jüdischen Gemeinde des Landes neben Gondar, zahlreiche Menschen gegen die Politik der Jewish Agency. Damals waren auch viele Juden aus Gondar angereist. Die meisten haben Verwandte in Israel, mit denen sie gern wieder zusammenleben möchten.

Die Gemeinde der Juden in Äthiopien wird immer kleiner und unbedeutender. Sie hat kaum Geld und finanziert die Erhaltung der Traditionen zu einem großen Teil durch private Spenden aus dem Ausland: Jede Kippa und alle Tefillin, die die Männer hier anlegen, sind Geschenke.

Die einzige Verbindung nach Israel, das im Laufe der Zeit mehrere kostspielige Luftbrücken organisiert hat, ist heute kaum mehr als ein dünner Faden. Da die jungen Gemeindemitglieder fast alle ausgewandert sind, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Gemeinde aussterben wird. »Das jüdische Leben hier ist mir gar nicht mehr so wichtig«, sagt Emite Hailu, »ich bin eine alte Frau und habe meinen Dienst getan. Aber ich will meine Kinder wiedersehen.«

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