Schweiz

Zuhörer, Ratgeber, Manager

Ist in der Zürcher Gemeinde groß geworden: Rabbiner Noam Hertig (32) Foto: PR

Noch vor ein paar Jahren hätte er nicht gedacht, dass er einmal Rabbiner werden würde. Als Religionslehrer, Therapeut oder Sozialarbeiter sah der damalige Psychologiestudent Noam Hertig seine berufliche Zukunft. Doch heute steht fest: Noam Hertig ist der neue Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ).

Nach dem Psychologiestudium ging Hertig den harten Weg der orthodoxen Rabbinerausbildung in Israel, worauf er stolz ist. Nahezu einstimmig, mit nur einer Enthaltung, wurde Hertig vor Kurzem auf einer außerordentlichen Gemeindeversammlung gewählt. Die Freude stand ihm nach der Wahl ins Gesicht geschrieben.

Mit Hertig kündigt sich ein frischer Wind für die Einheitsgemeinde mit ihren rund 2500 Mitgliedern an. Eine Gemeinschaft in dieser Größe zu führen, verlangt dem neuen Rabbiner, wie er selbst sagt, Managerqualitäten ab.

Die verschiedenen Kräfte des religiösen Spektrums versucht er genauso zu vereinen wie die unterschiedlichen Funktionen, die ein Rabbiner auszuüben hat. Es gehe »vor allem ums Zwischenmenschliche«, sagt er augenzwinkernd. Doch gerade, was diese Aufgaben angeht, weiß er, welche Verantwortung er trägt. Denn die Leute fragen ihn um Rat in emotionalen Belangen oder bei sozialen Problemen. »Das sind Momente, die einem nahegehen können«, sagt er. Schließlich sei er ja auch als Rabbiner in erster Linie Mensch.

Heterogen Egal ob orthodoxe oder säkulare, alteingesessene oder neu zugezogene Mitglieder, Aschkenasim oder Sefarden, Zürichs größte jüdische Gemeinde ist so heterogen wie kaum eine andere im deutschsprachigen Raum. Hertig ist in dieser Gemeinde groß geworden. Im Alter von knapp fünf Jahren kam er in die Schweiz. Davor lebte er mit seinen Eltern – die Mutter stammt aus Amerika, der Vater aus Schweden – in Israel, wo er auch geboren wurde.

»Ich habe Schweizerdeutsch im Kindergarten der Gemeinde gelernt«, erinnert sich Hertig und weiß, dass es wohl gerade das ist, was ihn auszeichnet: Er kennt die Gemeinde wie seine Westentasche. Die Strukturen und Verhältnisse, vielleicht sogar die ungeschriebenen Gesetze, sind ihm bestens vertraut.

Dabei will er keinen autoritären Stil verfolgen, die Leute sollen ihn auch nicht mit »Herr Rabbiner« ansprechen. Wichtig ist ihm die Nähe zu den Mitgliedern. »Ich bin jemand, der auf die Menschen zugeht, der das Gespräch sucht.«

Hertig, selbst ein herzlicher und kollegialer Mensch und Vater einer knapp dreijährigen Tochter, will eine lebendige Gemeindekultur pflegen, das jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl weitergeben. Er selbst hat ein offenes Haus, mit seiner Frau Daphna lädt er regelmäßig zu Schabbatessen zu sich nach Hause ein.

»In Zeiten zunehmender Individualisierung und gesellschaftlicher Indifferenz spielen Religion und Vereinskultur immer weniger eine Rolle«, sagt Hertig. Nach wie vor habe der Mensch zwar das Bedürfnis, irgendwo hinzugehören, doch das passiert auf virtueller Ebene, wie zum Beispiel in den sozialen Medien. »Was die jüdische Gemeinschaft betrifft, so gehen viele zu Chabad, weil sie dort keine Verpflichtungen einzugehen haben. Auch viele Israelis schließen sich nur noch in eigenen Zirkeln zusammen. Das ist legitim«, so der Rabbiner. »Mein Ziel ist es jedoch, dass die ICZ eine Kehilla, eine Gemeinde, ist, zu der die Menschen gerne und freiwillig kommen.«

Hierfür hat Hertig schon einiges in die Hand genommen. Er lancierte den gut besuchten Schiur »Burger & Learn«. Dort kommen junge Menschen zusammen, um über jüdische Ethik zu reden. Für geistige Nahrung sorgt Hertig, für die weltliche werden koschere Hamburger und Hotdogs gereicht.

Andere Events und Freitagabendessen sind in Planung. Die Kinder- und Erwachsenenbildung möchte er ausbauen, genauso wie die bestehenden Dienstleistungen optimieren. Sein Familiengottesdienst ist immer gut besucht.

Es ist ein besonderes Anliegen Hertigs, jungen Menschen intellektuelle und spirituelle Inhalte zu liefern. »In unserer Gemeinde sind einige Leute nur noch aus Tradition dabei, weil die Eltern und Großeltern einen Sitzplatz in der Synagoge hatten. Dabei hat eine Gemeinde viel mehr zu bieten als den sicheren Platz in der Synagoge oder auf dem Friedhof.«

Hertig verspricht sich von der Gemeinde Aufgeschlossenheit und Platz für neue Ideen sowie Vertrauen, das er schon jetzt mit Dankbarkeit wahrnimmt.

Offenheit Auf die Frage, wie er selbst zu den Begriffen Offenheit und Toleranz sowohl nach innen als auch nach außen steht, denkt der Rabbiner lange nach. Er ist bedacht darauf, sich präzise auszudrücken. »Innerhalb der Halacha habe ich ganz klar meine Linie. Es gibt keine Kompromisse im jüdischen Gesetz, es ist ein großes System, das bindend ist«, sagt er schließlich. Die Halacha sei kein Selbstbedienungsladen. »An gewissen religiösen Fundamenten kann ich selbst als moderner Mensch nicht rütteln.«

Trotzdem sieht er sich als Teil der modernen Welt, lässt Wissenschaft und Philosophie einfließen, soweit es die Tora in ihrem eigenen Rahmen zulässt. So bezeichnet sich Hertig selbst als modern-orthodox.

Was andere Religionen betrifft, so sucht er aber auch den Diskurs mit ihren Vertretern. Produkt dieser Arbeit ist das multireligiöse Kochbuch Was isSt Religion?, das er zusammen mit seiner Frau herausgegeben hat. »Allerdings ist sie die Köchin von uns beiden«, sagt er schmunzelnd. Das Projekt war ihm ein Anliegen, denn unabhängig von der Religion »verbinden uns die ethischen Grundsätze unseres Menschseins«.

Eines ist gewiss, Noam Hertig ist Rabbiner aus Berufung. Und so unklar ihm die Vorstellung vor ein paar Jahren vielleicht noch war, so wenig fremd ist ihm der Rabbinerberuf heute.

Hertig wuchs in einer Familie auf, die auf eine kleine Rabbiner-Dynastie zurückblicken kann: Schon sein Großvater und Urgroßvater mütterlicherseits übten den Beruf aus. Nun tritt er selbst am 1. Januar offiziell das Amt an und löst damit seinen Vorgänger Marcel Yair Ebel ab.

USA

Der Lautsprecher

Howard Lutnick gibt sich als Architekt der amerikanischen Zollpolitik. Doch der Handelsminister macht sich mit seiner aggressiven Art im Weißen Haus zunehmend Feinde

von Sebastian Moll  18.04.2025

Ungarn

Die unmögliche Geige

Dies ist die zutiefst berührende Geschichte eines Musikinstruments, das im Todeslager Dachau gebaut und 70 Jahre später am Balaton wiedergefunden wurde

von György Polgár  17.04.2025

Medien

Noa Argamani ist auf der »Time 100«-Liste

Alljährlich präsentiert das »Time Magazine« die 100 einflussreichsten Menschen der Welt. 2025 ist auch eine freigelassene israelische Geisel dabei

 17.04.2025

USA

Neuauflage von Weinstein-Prozess startet

Vor gut einem Jahr überraschte ein Gericht in New York die Welt und hob das historische Vergewaltigungsurteil gegen Harvey Weinstein auf. Nun wird über die Vorwürfe erneut verhandelt

von Benno Schwinghammer  14.04.2025

Türkei

Die Optimistin

Liz Behmoaras schrieb über das jüdische Leben im Land – und für das Miteinander. Ein Nachruf

von Corry Guttstadt  14.04.2025

Ägypten

Gefährliches Paradies

Der Sinai ist einer der wenigen Urlaubsorte im Ausland, den Israelis auf dem Landweg erreichen können. Gern auch zu Pessach. Aber zu welchem Preis?

von Matthis Kattnig  11.04.2025

Feiertag

Putzen, Plagen, Playmobil

Neben Mazza und Haggada bietet Pessach Raum für ganz neue, individuelle Rituale. Wir haben uns in sieben Familien in Europa und Israel umgehört

von Nicole Dreyfus  11.04.2025

Israel-Boykott

Johnny Rotten nennt Hamas »einen Haufen von ›Judenvernichtern‹ «

Eine irische Zeitung hat versucht, den Ur-Punk Johnny Rotten vorzuführen, der sich kraftvoll gegen einen Boykott Israels wehrt. Das ging gründlich schief

von Sophie Albers Ben Chamo  10.04.2025

USA

Eine Hochschule und ihr LGBTQ-Klub

Die einen feiern den »Meilenstein für queere Juden«, die Yeshiva University rudert zurück. Nicht nur die orthodoxe Gemeinschaft ist verwirrt

von Sophie Albers Ben Chamo  10.04.2025