Frankreich

Zuflucht vor Mobbing

Jüdische Eltern hoffen, dass ihre Kinder an jüdischen Schulen sicher sind. Foto: picture alliance / dpa

»Der 7. Oktober 2023 hat alles verändert«, sagt Hanna. Mit einem Mal wurde ihr Sohn Shlomo in der Grundschule ausgegrenzt, kam täglich mit Tränen in den Augen nach Hause. »Eine Mitschülerin, ein Mädchen von acht Jahren, sagte zu ihm: ›Ihr Juden bringt alle Araber um.‹« Hanna schluchzt. »Mein Sohn hat es nicht verstanden, er dachte, sie meint unsere Familie.«

Dabei habe sie sich vorher nie Sorgen gemacht. Die Familie wohnte in der Pariser Innenstadt, in einer ruhigen Gegend. Hanna, die ihren echten Namen und den ihres Sohnes nicht in der Zeitung lesen will, hat vier Kinder – die jüngste Tochter ist fünf Jahre alt, der älteste Sohn zehn. »Nie im Leben hätte ich daran gedacht, meine Kinder auf eine Privatschule zu schicken«, sagt sie. Sie habe immer Wert darauf gelegt, dass sie in einem diversen Umfeld aufwachsen. Aber plötzlich gehörten Mobbing und Beleidigungen zum Alltag ihres Sohnes.

Das ist kein Einzelfall: Seit dem 7. Oktober ist die Zahl antisemitischer Vorfälle an öffentlichen Schulen in Frankreich rasant gestiegen – von der Grundschule bis zum Lycée, das etwa der gymnasialen Oberstufe entspricht. Angesichts dessen ziehen sich Familien zunehmend von staatlichen Schulen zurück, die Nachfrage bei jüdischen Privatschulen steigt.

Die Schule in Frankreich verkörpert das Ideal der Republik, das Versprechen von Gleichheit und sozialem Aufstieg für alle Kinder

Dabei ist die Schule in Frankreich ein symbolträchtiger Ort. Sie verkörpert das Ideal der Republik, das Versprechen von Gleichheit und sozialem Aufstieg für alle Kinder. Dieses Ideal bröckelt schon länger, öffentliche Schulen kämpfen vielerorts mit Lehrermangel und Unterfinanzierung; wer es sich leisten kann, schickt seinen Nachwuchs auf die Privatschule. Die Statistiken zeichnen ein erschreckendes Bild. Laut dem Bildungsministerium wurden im vergangenen Schuljahr 2023/24 insgesamt 1670 antisemitische Taten an Schulen gemeldet. Darunter fallen Beleidigungen, verbale wie physische Gewalt, antisemitische Schmierereien. Im Jahr davor lag die Zahl der gemeldeten Vorfälle bei 400.

»Der Ausbruch des israelisch-palästinensischen Konflikts am 7. Oktober 2023 und seine Auswirkungen in Frankreich müssen offensichtlich berücksichtigt werden, um diesen starken Anstieg zu erklären«, teilt das Ministerium auf Anfrage mit. Ein Pressesprecher führt an, das Ministerium habe dazu aufgerufen, streng gegen antisemitische Vorfälle vorzugehen. Den Lehrkräften stünden Leitfäden zur Verfügung, wie mit Rassismus und Antisemitismus umzugehen sei, sowie spezialisiertes Unterrichtsmaterial zum Nahostkonflikt. Papier und strenge Worte gegen Hetze und Gewalt – ob das genügt?

Der Anstieg von Übergriffen an Schulen spiegelt eine größere gesellschaftliche Entwicklung: Insgesamt nimmt die Zahl erfasster antisemitischer Taten in Frankreich massiv zu. »Der 7. Oktober hat wie ein Katalysator auf den Hass gewirkt«, sagte Yonathan Arfi, Präsident des jüdischen Dachverbands CRIF, gegenüber der Zeitung »Le Monde«. Er sieht die Gefahr, dass sich Juden aus dem öffentlichen Raum zurückziehen, unsichtbar werden.

Immer mehr jüdische Familien verlassen das öffentliche Bildungssystem

An Schulen passiert das bereits: Immer mehr jüdische Familien verlassen das öffentliche Bildungssystem. »Wir konnten irgendwann nicht mehr«, sagt Hanna. Die Leiterin der Grundschule sei engagiert gewesen, habe durchgegriffen – aber das Mobbing gegen ihren Sohn habe nicht aufgehört. Nachdem die Familie aus beruflichen Gründen in einen Vorort gezogen war, entschied Hanna, ihre Kinder an einer jüdischen Privatschule anzumelden.

Seit diesem Schuljahr besuchen alle vier Kinder eine Privatschule in der Pariser Vorstadt. Finanziell sei das für die Familie nicht leicht zu stemmen, gesteht Hanna. Aber ihr Sohn fühle sich endlich wohl. »Neulich kam er von der Schule und sagte: ›Alle dort sind meine Freunde.‹« Eine Rückkehr ins öffentliche Schulsystem kann sie sich nicht vorstellen.

Im Schuljahr 2023/24 meldeten französische Schulen insgesamt 1670 antisemitische Taten.

Eine amtliche Statistik dazu, wie viele jüdische Schülerinnen und Schüler die öffentlichen Schulen verlassen haben, gebe es nicht, so das Bildungsministerium. In Frankreich ist es dem Staat verboten, Daten zu Religion und Herkunft seiner Bürger zu sammeln. Dabei hatte Präsident Emmanuel Macron bereits 2019 eine staatliche Untersuchung dazu verlangt. 2023 wiederholte der damalige Bildungsminister die Forderung. Ein offizieller Bericht liegt bis heute nicht vor.

»Das Ganze ist schwierig zu beziffern«, sagt Patrick Petit-Ohayon, »aber wir spüren, dass die Nachfrage steigt.« Petit-Ohayon, schlohweiße Haare, schwarze Kippa, empfängt in einem kleinen Büro im fünften Arrondissement, Bücher und Akten verdecken die Wand. Er leitet die Bildungsabteilung des Fonds Social Juif Unifié (FSJU), den Sozialfonds der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich. Petit-Ohayon verantwortet den Austausch zwischen der Gesamtheit der jüdischen Privatschulen und dem Staat – 117 Einrichtungen mit mehr als 37.000 Schülerinnen und Schülern.

»Zum neuen Schuljahr haben wir 32 neue Klassen eröffnet«, sagt er, im Vorjahr seien es 22 gewesen. Und das, obwohl die jüdische Gemeinschaft in Frankreich seit Jahren schrumpft: Tausende Jüdinnen und Juden haben das Land verlassen, viele in Richtung Israel.

Tausende Jüdinnen und Juden haben das Land verlassen, viele in Richtung Israel

40, wenn nicht 45 Prozent der jüdischen Schülerinnen und Schüler Frankreichs besuchen heute jüdische Privatschulen, schätzt Petit-Ohayon – deutlich mehr als noch vor zehn Jahren. Ein weiteres Drittel sei in anderen Privatschulen eingeschrieben, etwa katholischen Einrichtungen. Das öffentliche Bildungssystem dagegen verliere spürbar, während die Zahl antisemitischer Vorfälle dort steigt. Neu sei, dass sich Übergriffe nun auch bei den Jüngsten häufen, in Vor- und Grundschulen, sagt Patrick Petit-Ohayon alarmiert.

Begonnen habe diese Entwicklung lange zuvor. Die 2010er-Jahre waren für die Gemeinschaft von heftigen Einschnitten geprägt – der Anschlag auf eine jüdische Grundschule in Toulouse im März 2012, die Geiselnahme im koscheren Supermarkt »Hyper Cacher« im Januar 2015. »Schon damals sahen wir Wellen von Kindern, die aus öffentlichen Schulen zu uns kamen«, sagt Petit-Ohayon. Der 7. Oktober habe diese Tendenz einmal mehr beschleunigt.

Diese Verschiebung beobachtet auch Élodie Marciano. 2012 hat sie den Verein »Choisir l’école juive« gegründet. Der begleitet Familien, die ihre Kinder an einer jüdischen Schule anmelden wollen, und unterstützt sie, wenn nötig, mit Stipendien.

Eltern wollen ihren Kindern eine dezidiert jüdische Schulbildung bieten

»Lange haben Familien sich aus Überzeugung für jüdische Schulen entschieden«, sagt Marciano: Die Eltern wollten ihren Kindern eine dezidiert jüdische Schulbildung bieten. Seit einigen Jahren beobachte sie, dass Familien diese Entscheidung stattdessen zunehmend aus Not treffen – weil sie fürchten, dass ihre Kinder an öffentlichen Schulen nicht sicher sind.

»Innerhalb des letzten Jahres haben wir 20 Prozent mehr Anfragen erhalten.«

Élodie Marciano

Den 7. Oktober erlebte Marciano als Einschnitt: »Innerhalb des letzten Jahres haben wir 20 Prozent mehr Anfragen erhalten.« Zum Schuljahr 2024 habe der Verein mehr als 1000 Kinder beim Wechsel begleitet, darunter die vier Kinder aus Hannas Familie. Marciano geht davon aus, dass sich der Trend verstärken wird.

In Deutschland wird häufig vor »französischen Zuständen« gewarnt. Lässt sich hier eine ähnliche Entwicklung feststellen? »An vielen deutschen Schulen, unabhängig von ihrem Ort oder der Zusammensetzung der Schülerschaft, stellen latenter Antisemitismus und Israelhass sowie mangelndes Wissen unter Schülern, aber auch Lehrern ein Problem dar«, erklärt ein Sprecher des Zentralrats der Juden. In der Folge beobachte man auch hierzulande verstärkten Zulauf an jüdischen Schulen.

Die Entwicklung scheint eindeutig – aber es gibt auch Widerstand. »Wir wollen gegen diese Fluchtbewegung ankämpfen«, sagt Liam Szlafmyc am Tisch eines geschäftigen Cafés nahe dem Place de la Bastille. Gemeinsam mit seiner Mitschülerin Judith Alquier leitet er die Union des lycéennes et lycéens juifs de France (ULJF), einen jungen Verband jüdischer Schülerinnen und Schüler an staatlichen Lycées. Er ist in den traditionsreichen jüdischen Studentenverband UEJF eingegliedert.

»Wir wollen einer jungen jüdischen Generation eine Stimme geben«

Gegründet wurde der Schülerverband im Juni 2024, erzählt der 16-Jährige, unmittelbar nach dem Brandanschlag auf die Synagoge von Rouen. Die Schüler reagierten damit auf die Explosion antisemitischer Gewalt in Schulen wie überall in der Gesellschaft. »Wir wollen einer jungen jüdischen Generation eine Stimme geben«, sagt seine Mitstreiterin Alquier.

Der Verband hat angefangen, Berichte von Schülerinnen und Schülern zu sammeln, die Antisemitismus erlebt haben. So erzählt ein Schüler in Paris, wie er in sozialen Medien als »dreckiger Jude« beschimpft und eingeschüchtert werde: »Wir werden euch f…, wie Hitler es gemacht hat.« Eine Schülerin im Lycée berichtet, wie sie während einer »propalästinensischen« Demonstration an ihrer Schule bedroht worden sei: »Wir werden den 7. Oktober für euch wiederholen!«

»Uns haben viele junge Menschen kontaktiert, die verzweifelt waren«, sagt Alquier, »völlig alleingelassen von der Schulleitung.« Die ULJF wolle ihnen Unterstützung bieten, aber auch die Politik auf das Problem antisemitischer Gewalt aufmerksam machen.

Die Werte der Republik

Was muss also passieren? »Wir müssen die Werte der Republik stärken«, sagt Patrick Petit-Ohayon vom jüdischen Sozialfonds. Der Staat habe sich zu lange tolerant gezeigt gegenüber jenen, die ihn offensichtlich ablehnen. Diese politische Krise zeige sich nirgendwo deutlicher als an den Schulen: Kürzlich ohrfeigte eine Schülerin in Tourcoing ihre Lehrerin, weil diese sie aufgefordert hatte, dem Gesetz entsprechend ihr Kopftuch auf dem Schulgelände abzunehmen. In Bordeaux wurde ein Lycée mit antisemitischen Schmierereien überzogen. Petit-Ohayon sieht das republikanische Modell der Schule in Gefahr.

»Junge Jüdinnen und Juden sollen frei entscheiden können, in welche Schule sie gehen«, unterstreicht er – sei es eine öffentliche oder eine private Einrichtung. Voraussetzung hierfür sei aber, dass der Staat ihre Sicherheit gewährleistet, dass er hart gegen antisemitische Verstöße durchgreift. Nur so bliebe den Familien eine echte Wahl.

»Das beste Mittel, um Antisemitismus zu bekämpfen, ist Bildung«, sagt Szlafmyc von der Schülerunion. Er fordert, im Unterricht stärker gegen antisemitische Vorurteile zu sensibilisieren, angefangen bei den Jüngsten. Die ULJF veranstaltet Workshops für ihre Mitglieder; Schülerinnen und Schüler tauschen Erfahrungen aus und lernen dabei, sich gegen antisemitische Rhetorik zu wehren und sie zu entkräften.

Ein Rückzug, gar eine Alija, kommt für Szlafmyc jedenfalls nicht infrage. »Unser Platz ist in Frankreich«, sagt er entschlossen, »wir gehören hierher.«

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