Es ist nicht einfach, in Indiens Millionenmetropole Mumbai Spuren von Schoa-Überlebenden zu finden. Die letzten, die er gekannt habe, seien 1996 gestorben, meint Ralphy Jhirad. Der studierte Ingenieur organisiert seit Jahren Touren auf den Spuren jüdischen Lebens durch die Stadt.
Er wisse zwar, wo das Gebäude des Jewish Relief stand, der Organisation, die während des Holocaust geflohenen Juden half, in Indien Fuß zu fassen, sagt er, aber viel sei dort nicht mehr zu sehen. »Die Kinder der Überlebenden sind alle ins Ausland gegangen. Sie leben heute in den USA, in Australien oder Israel.«
flüchtlinge Schätzungsweise 5000 Juden fanden in Indien Zuflucht, hat Margit Franz, Historikerin an der Universität Graz, in jahrelangen Recherchen herausgefunden. »Die tatsächliche Zahl werden wir wohl nie in Erfahrung bringen.«
Indien gehörte damals zwar bereits seit Jahren zur britischen Krone, aber nur die Hälfte des Landes wurde tatsächlich von den Briten beherrscht. In der anderen Hälfte gab es 500 Fürstenstaaten, die sehr unterschiedlich groß und einflussreich waren. So habe es durchaus einzelne Herrscher gegeben, die sich sehr für die Flüchtlinge aus Europa einsetzten.
Für manche war Indien auch nur ein Transitland, sagt die Wissenschaftlerin. »Die meisten jüdischen Flüchtlinge haben ihr Judentum nicht praktiziert. Sie tauchten weder in den Synagogen noch beim Jewish Relief auf.«
Mit der Unabhängigkeit Indiens 1947 verließen viele von ihnen das Land wieder. »Die meisten hatten sich an den britischen Hierarchien orientiert. Als diese zerbrachen, verloren viele ihre Arbeit. Es gab keine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Sicherheiten«, glaubt Franz. Wer blieb, waren die Älteren oder diejenigen, die familiär gebunden waren.
GEdenktafeln Mitten im Herzen Mumbais, in der Nähe des Bahnhofs Chinchpokli, liegt einer der drei jüdischen Friedhöfe der Stadt. Er ist umringt von großen Wohnblocks, eine stark befahrene Straße führt an dem Gelände vorbei. Genutzt wird der Friedhof heute nur noch selten. Dafür dient er den Gärtnern als Wohnstätte. In der Aussendungshalle haben sie ihre Kleidung und einige Kochutensilien deponiert. An einer Wand ist eine Leine zum Wäschetrocknen befestigt, in eine andere sind Gedenktafeln von Verwandten für ihre verstorbenen Angehörigen eingelassen, etliche mit deutschen Namen.
»Für mich ist dies das einzige Holocaustmahnmal in ganz Indien«, meint Margit Franz. Ein Gespräch mit den Friedhofsbewohnern ist nicht möglich, weil sie kaum Englisch sprechen, doch bereitwillig führen sie Besucher herum. Der Friedhof wurde hauptsächlich von den Baghdadi-Juden genutzt, jener Gruppe, deren Vorfahren vor 200 bis 300 Jahren von Bagdad nach Indien flohen. Prominentester Vertreter ist David Sassoon. Der Kaufmannssohn wurde durch den Baumwoll- und Kokainhandel wohlhabend. Heute erinnert noch die prunkvolle Sassoon-Bücherei an den berühmten Sohn der Stadt, der ihre Entwicklung durch große Spenden nachhaltig mitprägte.
In einer der hinteren Ecken des Friedhofs befinden sich einige besonders verfallene Gräber. Bäume wachsen heraus, manche Grabsteine sind zerbrochen oder umgefallen, Gestrüpp überwuchert die Platten. Die Namen verweisen auf die deutsch-jüdische Herkunft der Verstorbenen.
»Es ist traurig, die Gräber in so schlechtem Zustand zu sehen. Es wäre eine große und wichtige Aufgabe, sich dieser Grabstätten anzunehmen, um dem damaligen jüdischen Exil einen Gedenkort zu geben«, wünscht sich Margit Franz. Auf dem gut gepflegten Friedhof erwecken die Gräber den Anschein, als ob niemand so recht weiß, was man damit anfangen soll.
»Für viele Flüchtlinge war Indien nicht das Land erster Wahl«, erzählt die Historikerin. »Doch nachdem es immer schwieriger wurde, in die USA oder nach Großbritannien auszuwandern, schaute man sich nach exotischeren Zielen um.«
Doch nicht jeder durfte nach Indien einreisen. Die Briten ließen vor allem Flüchtlinge ins Land, deren Berufe gefragt waren, wie Ärzte und Ingenieure. Alleinreisende Frauen und Menschen mit einfacher Bildung oder fehlenden Netzwerken hatten kaum eine Chance. »Die Briten wollten nicht, dass man auf den Straßen arme Westeuropäer sieht, denn den Indern sollte vermittelt werden, dass Westeuropäer reich und gut situiert sind.«
Die NSDAP unterhielt auch in Indien starke Außenstellen.
Wirklich sicher waren die Juden in Indien allerdings nicht, denn die NSDAP unterhielt auch in Bombay und Kalkutta starke Außenstellen. »Wer jüdisch war oder nicht mitmachte, war vielen Widrigkeiten ausgesetzt«, sagt Franz.
Parteifunktionäre führten Dateien mit Flüchtlingen und warnten die Expats davor, sich auffällig zu verhalten oder sich antideutsch zu äußern, erzählt Franz. Andernfalls könnte es für die in Deutschland verbliebene Familie gefährlich werden.
Deutsche mit jüdischen Wurzeln seien auch in Indien verfolgt worden. So etwa der Agfa-Manager Alfred von Leyden. Weil seine Mutter Jüdin war, verlor er seine Arbeitsstelle.
Bedrohung Nach dem Zweiten Weltkrieg ging für viele die Bedrohung weiter, als sie zusammen mit Nazis in Internierungslager gesteckt wurden. Es wurde gedroht, und es kam zu Übergriffen. Auch dort hätten die Nazis Dateien über Mithäftlinge geführt.
Die größte Herausforderung sieht Franz derzeit in der Fülle des noch unerforschten Archivmaterials. Außerdem gebe es kaum noch Zeitzeugen.
Am Rande hat die Historikerin einen weiteren Aspekt entdeckt: der Einfluss jüdischer Flüchtlinge auf die indische Kunstszene und insbesondere auf die Malergruppe »Modern Progressives«, deren Werke auf internationalen Kunstauktionen heute Höchstpreise erzielen. Kaum jemand wisse, wie sehr die jüdischen Exilanten Walter Langhammer, Rudolf von Leyden oder Immanuel Schlesinger die Gruppe in den 40er-Jahren geprägt haben. Die österreichische Wissenschaftlerin will das mit einem nächsten Forschungsprojekt ändern.