Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) haben damit begonnen, die Unternehmensgeschichte während der NS-Zeit aufzuarbeiten. Dem ÖBB-Vorstandsvorsitzenden Christian Kern ist es wichtig zu betonen, dass dies nicht aufgrund von juristischen Zwängen, sondern aus eigenem Antrieb geschieht. Dies sagte er vergangene Woche bei der Eröffnung der Ausstellung »Verdrängte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938–1945« in einem Gebäude neben dem Bahnhof Wien Praterstern, dem früheren Nordbahnhof.
viehwaggon Im überdachten Innenhof des Bürokomplexes aus Glas zeigt die von Milli Segal kuratierte Schau bis Ende September einerseits die Züge in den Tod. Auf dem Portiershäuschen wurde ein hölzerner Viehwaggon nachgebaut. Es handelt sich dabei vor allem um eine akustische Installation: Wer sie betritt, hört das Datum jedes Deportationszugs aus Österreich samt Zielbahnhof. Rund 65.000 österreichische Juden kamen ums Leben in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern, in die sie deportiert worden waren, ebenso wie etwa 8.000 Roma und Sinti sowie 1.500 Männer und Frauen, die wegen ihrer Homosexualität oder als »Asoziale« verfolgt wurden.
Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), sagte, es falle ihm besonders schwer, diese Schau mitzueröffnen. Hier werde Geschichte erzählt, die seine und die Familien vieler anderer Juden betreffe – Dinge, »die uns wehtun«. Doch genau deshalb sei die Ausstellung wichtig. Jeder kenne die Zahlen, doch hier gehe es um das Wie: »Wie war es möglich?«
deportationen Eine Antwort auf diese Frage ermöglicht in der Schau eine Karte, in der alle aus Österreich durchgeführten Deportationen eingezeichnet wurden. Viele endeten in Konzentrationslager wie Dachau, Mauthausen, Auschwitz, Treblinka, Maly Trostinec oder Buchenwald und begannen am Wiener Nordbahnhof.
Segal sowie Projektkoordinatorin Traude Kogoj, die auch für den Ausstellungskatalog verantwortlich zeichnet, ging es aber nicht nur um den Aspekt der Vernichtung. Gezeigt wird auch, wie die Bahn Leben rettete: etwa durch die Kindertransporte, mit denen rund 3.000 jüdische Kinder aus Österreich in Sicherheit gebracht wurden. An die 128.000 Juden gelangten mit Zügen der damaligen Deutschen Reichsbahn in die Emigration. Die österreichische Bahn integrierte sich im März 1938, fünf Tage nach dem »Anschluss«, in das deutsche Unternehmen.
zwangsarbeiter Auch die Rolle der Bahn als Arbeitgeber wird in der Schau aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet: Da war einerseits die politische Säuberung zu Beginn. Rund 20 Prozent der Bahnangestellten wurden entlassen. Da war zum anderen der Widerstand durch Mitarbeiter. 154 wurden deshalb zum Tode verurteilt und hingerichtet, 1.438 kamen ins Zuchthaus oder in ein KZ, wo weitere 135 starben. Andererseits beschäftigte auch die Bahn Zwangsarbeiter. 540.000 wurden 1944 auf dem Gebiet des heutigen Österreich herangezogen. Davon arbeiteten 19.235 bei der Deutschen Reichsbahn.
Für die Ausstellung unter wissenschaftlicher Beratung des Zeithistorikers Oliver Rathkolb haben Lehrlinge der ÖBB Zeitzeugen interviewt und sich Originalschauplätze wie die heutige KZ-Gedenkstätte Mauthausen angesehen.
zeitzeugen Unter den Lehrlingen war auch Julia Scherzer. Sie sagte, sie habe es als besonders berührend empfunden, mit Zeitzeugen zu sprechen, vor allem, ihnen »in die Augen zu schauen«. Aus den Recherchen der Jugendlichen ist ein Film entstanden, der ebenfalls in der Schau gezeigt wird. Die Lehrlinge führen zudem durch die Ausstellung, mit der auch viele Schulen erreicht werden sollen.
Unter den Besuchern der Eröffnung war allerdings rasch Gesprächsthema, dass eine Schau, die in einem Bürogebäude der Bahn gezeigt wird, wahrscheinlich nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient. Christian Kern sagte auf die Frage, ob die Ausstellung auch auf Bahnhöfen gezeigt werden soll: Man sehe sich das Interesse erst einmal an, vielleicht werde die Schau ja über den Herbst hinaus verlängert. Jedenfalls halte er die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht für beendet. Er könne sich weitere Initiativen vorstellen. Österreichs Verkehrsministerin Doris Bures (SPÖ) hatte zuvor die Hoffnung geäußert, dass die Ausstellung »noch vielen Menschen zugänglich gemacht wird«.
Die Ausstellung ist bis zum 30. September, montags bis freitags von 8 bis 17 Uhr, zu sehen.
ÖBB Infrastruktur, Wien, Am Praterstern 3
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