Am 8. März 1968 versammeln sich auf dem Campus der Warschauer Universität mehr als 1000 Studenten. Sie skandieren Parolen und verteilen Flugblätter. »Wir werden nicht zulassen, dass die Verfassung der Volksrepublik Polen mit Füßen getreten wird!«, verkündet eine Studentin vom Balkon des Hauptgebäudes. Ihre Wut richtet sich gegen die Führung der herrschenden Kommunistischen Partei, gegen die fehlende Meinungsfreiheit und die Repressionen, die auf frühere studentische Proteste folgten.
Busse mit Einheiten der freiwilligen Bürgermiliz fahren auf. Sie greifen an, es kommt zu Jagdszenen. Mehrere Hundert Einsatzkräfte prügeln auf die Studenten ein. Einige finden in Geschäften, andere in einer nahe gelegenen Kirche Zuflucht. Viele werden festgenommen.
Diese Begebenheit bildete den Auftakt zu den sogenannten März-Ereignissen. In Danzig, Krakau, Lublin und weiteren Universitätsstädten gingen in den Folgetagen bisweilen mehrere Tausend Menschen auf die Straße und solidarisierten sich mit den Studenten aus Warschau. Allerorten schritt die Polizei hart ein und nahm in den folgenden Tagen insgesamt mehr als 2700 Personen in Gewahrsam.
»verschwörung« Die staatlichen Behörden beschränkten sich jedoch nicht auf die gewaltsame Niederschlagung. Vielmehr initiierten sie zusätzlich eine Hetzkampagne gegen die Aktivisten. In Zeitungen, im Radio und im Fernsehen wurden die Proteste verurteilt und als »zionistische Verschwörung« dargestellt: Der allergrößte Teil der Studenten sei unschuldig, hieß es, sie seien lediglich von »zionistischen Agenten« für ihre Zwecke missbraucht worden. Die Zionisten wiederum hätten sich mit Westdeutschland verschworen, um die politische Situation in Polen zu destabilisieren und die revanchistischen Ansprüche Deutschlands durchzusetzen.
Wer mit den zionistischen Agenten gemeint war, machte ein Artikel deutlich, der zehn Warschauer Studenten jüdischer Herkunft als Drahtzieher der Proteste ausmachte. Dass die Personen sich selbst nicht als Juden verstanden und erst recht keine Zionisten waren, spielte dabei keine Rolle. Die Identifizierung der Studenten als jüdisch sollte die gesellschaftliche Akzeptanz für die Proteste mindern.
Ihren Ausgangspunkt hatte die Propaganda, die sich nun gegen die Studenten richtete, indessen im Juni 1967. Im Sechstagekrieg ergriff die Sowjetunion Partei für die arabische Seite. Alle Ostblockstaaten mit Ausnahme Rumäniens brachen die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab und verurteilten das Land als Aggressor.
Illoyalität So sehr sich die antizionistische Rhetorik in den einzelnen Staaten glich, führte allein in Polen diese Stimmung zu »Säuberungen« unter den Parteikadern und zu Kampagnen gegen Personen des öffentlichen Lebens. Hochrangige Politiker und Funktionäre jüdischer Herkunft wurden des Zionismus und damit der Illoyalität Polen gegenüber bezichtigt – Parteiausschlüsse und Amtsenthebungen waren die Folge.
Als 1968 die Proteste begannen, wurden die Studenten zum vorrangigen Ziel der Kampagne. In ganz Polen fanden Zehntausende Partei- und Betriebsversammlungen mit bis zu 100.000 Teilnehmern statt. Einhellig wurden die studentischen Proteste verurteilt und der Parteiführung die Unterstützung zugesichert.
Zwar lässt sich daraus nicht ableiten, dass die gesamte Bevölkerung gleichermaßen hinter der Kampagne stand, denn die Versammlungen waren von der Partei organisiert und zumeist verpflichtend. Doch regte sich gesamtgesellschaftlich nur wenig Widerstand gegen die antisemitische Stimmungsmache. Lediglich vereinzelt wagten sich Intellektuelle und Politiker, öffentlich gegen die Diffamierungen Stellung zu beziehen.
Dies hatte zweierlei Gründe. Zum einen war im katholisch geprägten Polen der Antijudaismus stark verbreitet. Dies zeigte sich nicht zuletzt in den an Juden verübten Pogromen der Kriegs- und Nachkriegszeit.
auswanderung Zum anderen profitierten viele Polen von der antisemitischen Kampagne. 8000 Mitglieder wurden 1968 aus der Partei ausgeschlossen, unter ihnen ranghohe Politiker, Funktionäre und Professoren. Die Ausschlüsse setzten eine Kette von Beförderungen in Gang. Es entstanden enorme Aufstiegschancen. Für das spärliche jüdische Leben in Polen bedeutete der März 1968 das Ende. Knapp die Hälfte der noch etwa 30.000 in Polen lebenden Juden verließ bis 1971 das Land. Nachdem man sie ihrer Existenzgrundlage beraubt und sie der Illoyalität bezichtigt hatte, erschien die Auswanderung alternativlos.
Die Ausreise wurde jedoch von staatlicher Seite nur denen genehmigt, die als Migrationsziel Israel angaben. Damit erschuf die Partei nachträglich den empirischen Beweis für die behauptete antizionistische Verschwörung.
Tatsächlich wanderte aber nur ein Drittel der Emigranten nach Israel aus. Viele bevorzugten stattdessen Schweden, Dänemark oder die USA.
Auch die Protestbewegung überstand die antisemitische Kampagne nicht. Viele der rebellierenden Studenten verbrachten Monate in Untersuchungshaft und wurden aus der Universität ausgeschlossen. Einige wurden zu Freiheitsstrafen von mehreren Jahren verurteilt, andere aus der Haft entlassen, weil sie zustimmten, Polen zu verlassen.
Solidarnosc So niederschmetternd die Ereignisse für die Studenten auch waren, entwickelten sie sich doch zu einem Ausgangspunkt für die spätere Oppositionsbewegung. Die Aktivisten verloren durch die Ereignisse von 1968 den Glauben daran, dass sich das politische System reformieren ließe. Sie engagierten sich fortan gegen den Sozialismus und spielten für die spätere Solidarnosc eine wichtige Rolle. Mit Adam Michnik und Jacek Kuron zählten gleich zwei Protagonisten von 1968 zu den Vertretern der Opposition, die am sogenannten Runden Tisch 1989 den demokratischen Umbruch in Polen aushandelten.
Auch jene, die Polen 1968 verließen, engagierten sich aus dem Ausland für eine gesellschaftliche Transformation Polens. Sie sammelten Spenden oder unterstützten die Opposition publizistisch. Der Historiker Jan T. Gross, der Polen 1969 nach mehrmonatiger Haft verließ, hat mit seinen Büchern zum polnischen Antisemitismus die polnische Gesellschaft bis heute stark geprägt.
Anlässlich des 50. Jahrestages der Ereignisse finden dieser Tage in Warschau zahlreiche Gedenkveranstaltungen und eine internationale Konferenz statt. Dass sich Staatspräsident Andrzej Duda, der kürzlich das sogenannte Holocaust-Gesetz unterschrieb, zu einer Kranzniederlegung an der Warschauer Universität angemeldet hat, sorgt bei den Zeitzeugen für Unmut. Proteste werden erwartet.
Der Autor ist Historiker und arbeitet beim Begabtenförderungswerk ELES. Von ihm erscheint im Mai das Buch »Polens letzte Juden. Herkunft und Dissidenz um 1968«.