Glänzend waren die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nie. Sogar in Zeiten des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch spürte man immer die Differenzen zwischen Kiew und Moskau.
Doch die Maidan-Revolution, im Laufe derer Janukowitsch nach Russland floh, war der endgültige Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den beiden größten Ex-Sowjetrepubliken. Spätestens nach der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass wurde klar: Ab sofort gehen die Ukraine und Russland getrennte Wege.
Kontakte »Es ist bis heute eine neue Situation für beide Länder. Fast jeder Ukrainer hat Verwandte in Russland – und umgekehrt. Wir waren schon immer ein gemeinsamer Kulturraum«, sagt Igor Lewenstejn (59). Er stammt aus dem südukrainischen Saporischschja und ist einer der erfahrensten Journalisten in der Hauptstadt Kiew. Außerdem engagiert er sich in der jüdischen Gemeinde und macht Pressearbeit für verschiedene jüdische Organisationen. Dabei hat der Wahlkiewer, der russische Sprache und Literatur studierte, schon immer gute Kontakte nach Russland gepflegt. Doch in den vergangenen Jahren hat sich manches verändert.
»Man konnte schon vor dem Konflikt nicht davon sprechen, dass es systematische Beziehungen zwischen den Gemeinden hier und in Russland gibt«, erklärt Lewenstejn. Der Grund dafür ist recht simpel: Das Judentum in beiden Ländern sei nicht so klar strukturiert wie in westeuropäischen Staaten, und es gebe zu viele Organisationen, die nicht stark miteinander verbunden sind. »Doch der Kontakt und die gegenseitige Hilfe, die es früher gab, sind nun natürlich weg. Im Prinzip reduzieren sich die Beziehungen auf die Gespräche zwischen ukrainischen und russischen Juden auf internationalen Veranstaltungen«, meint Lewenstejn.
Diese Gespräche laufen jedoch nicht immer optimal: »Manche Leute streiten sich ganz schnell. Die persönlichen Positionen der Menschen hier und dort sind sehr unterschiedlich.«
Worüber sich Lewenstejn freut, ist die Tatsache, dass sich jüdische Organisationen in der Ukraine und in Russland politisch nicht instrumentalisieren lassen. »Niemand gibt kollektive Statements heraus, wir halten uns da alle ein wenig heraus«, sagt er.
Die Organisationen in beiden Ländern sind angewiesen, die lokale Gesetzgebung zu respektieren und gegenüber Kiew beziehungsweise Moskau ihre Loyalität zu zeigen. »Das ist ebenfalls selbstverständlich«, meint Lewenstejn. »Beide Seiten wahren das alte Prinzip: Das Gesetz des Landes ist unser Gesetz.«
Doch wie wird es in Zukunft weitergehen? Sowohl bei der ukrainischen Vereinigung der jüdischen Organisationen VAAD als auch beim russischen Verband der jüdischen Gemeinden betont man, wie wichtig es sei, den Kontakt mit Juden im Nachbarland nicht zu verlieren. Doch niemand ist bereit, weitere Auskunft zu geben. »Wie gesagt: Niemand möchte, dass das Judentum politisch instrumentalisiert wird«, meint Igor Lewenstejn. Da das Ende des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine nicht in Sicht ist, müsse dieser Status quo noch lange halten.
Familien Auf persönlicher Ebene wirkt sich der Konflikt zwischen beiden Ländern noch stärker aus. Dies erlebte Marija Smolnjakowa (51), Kleinunternehmerin im ostukrainischen Charkiw, in den vergangenen Jahren. Sie kommt aus einer typischen postsowjetischen jüdischen Familie, die in verschiedene Länder der Region verstreut ist. Während Smolnjakowa, im heutigen Russland geboren, bereits seit 20 Jahren in der Ukraine lebt und auch den ukrainischen Pass besitzt, wohnt ihr drei Jahre älterer Bruder Witalij in der russischen Stadt Rjasan.
»Wir haben uns auch vor 2014 nicht mehr oft gesehen, denn jeder hat sein eigenes Leben. Doch damals haben wir mindestens einmal pro Woche miteinander telefoniert«, erzählt Marija. Aber als die Proteste auf dem Maidan begannen, wurden die Gespräche zwischen den Geschwistern politisch.
Am Anfang sah Smolnjakowa die Demonstrationen kritisch, doch im Laufe der Zeit unterstützte sie den Maidan-Protest, während ihr Bruder eine völlig andere Meinung vertrat. »Was Witalij mir erklären wollte, war die klassische Propaganda über ›Faschisten auf dem Maidan‹ – also das, was er im russischen Fernsehen sah.«
Die Krim-Krise und der Krieg im Donbass vergrößerten die Differenzen zwischen Marija und Witalij immer mehr, sodass sie im Sommer 2014 entschieden, nicht mehr miteinander zu reden. »Bloß gut – denn diese Gespräche waren absolut sinnlos«, betont Smolnjakowa.
Zerwürfnisse Solche Zerwürfnisse erleben viele Menschen in Russland und der Ukraine, die Verwandte im jeweils anderen Land haben. Ihren persönlichen Konflikt haben Marija und Witalij erst Ende 2016 beigelegt – und das auch nicht ganz. »Ich habe meine Position gemildert«, sagt Marija, »und mein Bruder glaubt nicht mehr an ›die Faschisten in Kiew‹. Wir haben verstanden, dass wir trotz allem Geschwister sind.«
Das Politische spielt in den Gesprächen zwischen den beiden nach wie vor eine große Rolle: »Wir streiten immer noch, und Witalij bleibt deutlich radikaler als ich. Aber wir haben gelernt, wie man damit umgeht.« Vielen anderen ukrainisch-russischen Familien gelingt das bis heute nicht. Sie vermeiden jeglichen Kontakt.
Noch schwieriger könnten die Beziehungen bereits in den folgenden Monaten werden. Denn nachdem die Europäische Union am 11. Juni die Visapflicht für ukrainische Staatsbürger aufgehoben hat, denkt das politische Kiew immer lauter über die Einführung der Visapflicht für Russen nach. Sollte das Parlament dafür stimmen, würde das ukrainisch-russische Familien, egal ob jüdisch oder nicht, weiter auseinandertreiben.