Das NS-Regime und im Besonderen die Schoa gehören zu den am gründlichsten dokumentierten Epochen und Ereignissen der neueren Geschichte. Und doch tun sich immer noch und immer wieder neue Lücken der Forschung auf.
Eine davon markiert die gegenwärtige Ausstellung des Mémorial de la Shoah, des Holocaust-Museums in Paris – das seit den Terroranschlägen von Januar 2015 unter strengster Bewachung steht. So stellt sich bereits beim Betreten durch die Sicherheitsschleuse ein ungutes Gefühl ein, als müssten die Tatsachen, die das Mémorial zeigt und sprechen lässt, mittlerweile gegen ideologisch motivierten Terror geschützt werden.
Brisanz Was das Mémorial zeigt, ist das Ergebnis intensiver Recherchen überwiegend französischer Historiker in russischen, ukrainischen und polnischen Archiven. Es ist brisant und ein Meilenstein in der Erforschung der Rezeption und politischen Indienstnahme des Holocaust. Die Schau »Den Krieg filmen: 1941–1946. Die Sowjets im Angesicht der Schoa« zeigt in überwältigender Fülle die Dokumentarfilme, die sowjetische Kriegsberichterstatter in den Uniformen der Roten Armee während der deutschen Besatzung ihrer Heimat, insbesondere aber beim Zurückdrängen der Wehrmacht ab Anfang 1943 drehten.
Die Einheiten der Roten Armee waren die Ersten – und Einzigen –, die die Gräueltaten von SS und Wehrmacht auf ihrem Rückzug, vor allem aber die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten sahen. Sie erreichten die Schreckensstätten oft nur Stunden, nachdem die deutschen Besatzer geflohen waren. Authentischeres Bildmaterial gibt es nicht, abgesehen allenfalls von den Aufnahmen aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Bergen-Belsen, die von den westlichen Alliierten befreit wurden und den kollektiven Bildervorrat zu den NS-Verbrechen geprägt haben.
Die sowjetischen Aufnahmen wurden für die Propaganda an der Heimatfront genutzt, sind jedoch nie über die Grenzen des Stalinreiches hinausgedrungen. Darin liegt ihre Tragik. Denn Stalin, selbst kaum verhohlener Antisemit, lehnte jede Hervorhebung oder auch nur Erwähnung eines spezifisch jüdischen Leidensschicksals ab. Für ihn gab es nur das Sowjetvolk. Die Filmaufnahmen sollten den sowjetischen Kampfeswillen sowie die Moral der Roten Armee und der gesamten Bevölkerung stärken – und sie sollten zur Rache auffordern an den »deutschen Faschisten«, wie der sowjetische Sprachgebrauch lautete.
einzigartigkeit Der Holocaust war für Stalin ein Teil der deutschen Gräueltaten, aber er erfasste ihn nicht in seiner historischen Einzigartigkeit. Zu Beginn des deutschen Feldzugs war ein »Jüdisches Antifaschistisches Komitee« gegründet – und instrumentalisiert – worden, dessen Vorsitzenden Solomon Michoels Stalin nach dem Krieg ermorden ließ. Spätestens mit der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 trat der Holocaust in seinem ganzen Ausmaß zutage.
Auch die Leiden der Ukraine – aus der im Übrigen die erdrückende Mehrzahl der ermordeten Juden der Sowjetunion stammt – wurden nicht gesondert wahrgenommen. In den Jahren 1932 und 1933 waren, was kein Dokumentarfilm je aufzeichnen durfte, mehrere Millionen Ukrainer in einer von den Bolschewiki entfachten Hungersnot aufgrund forcierter Getreidebeschlagnahmung umgekommen. Alexander Dowschenko, bereits vor dem Krieg einer der bedeutendsten – und am stärksten vom Regime drangsalierten – sowjetischen Regisseure, musste Anfang 1944 das Verbot seines Filmprojekts Ukraine in Flammen erleben.
Er hatte Glück, dass sein Landsmann, der spätere Parteichef Nikita Chruschtschow, den Stalin zum bäuerischen Tanzbären seiner abendlichen Gelage zu machen pflegte, die Hand über ihn hielt. Die Entdeckung der zehntausendfachen Morde in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew hielt er im Film fest, der sich in die sowjetische Politik einfügte. Anders etwa als in Katyn, wo die Morde des sowjetischen NKWD am polnischen Offizierskorps kurzerhand als Naziverbrechen ausgegeben wurden.
Propaganda Der propagandistische, vor Retuschen und falschen, nachgestellten Aufnahmen nicht zurückschreckende Umgang der Moskauer Zensoren mit dem Filmmaterial hat dazu beigetragen, die Dokumentaraufnahmen, soweit sie überhaupt außerhalb der Sowjetunion bekannt wurden, als schiere Propaganda abzutun. Und alsbald gerieten sie aus dem Gesichtskreis der Historiker.
Solche propagandistischen Retuschen zeigt die Ausstellung ungeschminkt. Und doch ist die schiere Masse der Filme, oft unter Lebensgefahr unmittelbar an der Front gedreht, ein »unwiderlegbares Zeugnis dessen, was die Schoa im Osten bedeutete«. So formuliert es eine der beteiligten Historikerinnen.
Gleichwohl schließt der Begleitkatalog, der als künftiges Referenzwerk anzusehen ist, mit einem Kapitel unter dem bangen Titel »Ein ausgelöschtes Judentum?«. Die jüdischen Opfer der Massaker wurden in den Filmen, die man dem Publikum vorführte, als »friedliche Sowjetbürger« verunklart, wie insbesondere die jüdischen Mordopfer von Babij Jar zu »Einwohnern von Kiew« generalisiert wurden. Die authentischen Filmstreifen, die jetzt aus ihrem Archivdasein ans Licht gebracht wurden, sprechen eine andere, deutlichere Sprache.
Die Pariser Ausstellung ist umfangreich, ja geradezu überreich an Material. Die auf zahlreichen Monitoren laufenden Filme sind zumal in ihrer Unmittelbarkeit mehr als bedrückend. Mit ihren Handkameras und ihrer oftmals unzureichenden Ausrüstung, etwa was Nachschub an Rohfilm oder dessen Entwicklung betraf, haben die sowjetischen Filmreporter ein Monument geschaffen, das es in seinem ganzen Umfang erst noch zu erfassen gilt.