Acht Jahre alt war Abraham Ascher 1936 und enorm neugierig und wagemutig. »Ich hörte, dass Adolf Hitler nach Breslau kommen würde«, erzählt er vor dem Hotel Monopol in der heute polnischen Stadt Wroclaw. »Mein Cousin und ich entschieden, hierherzukommen.« Die »Heil«-schreiende Menschenmenge unter dem großen Balkon war enorm. »Ein Mann nahm mich auf seine Schultern. Doch als er merkte, dass ich nicht mitjubelte, warf er mich runter und schrie: ›Du verdammter Jude!‹«
In dem bewegenden Dokumentarfilm Wir sind Juden aus Breslau, der am 17. November in den deutschen Kinos anläuft, gehen mehr als ein Dutzend deutscher und polnischer Juden noch einmal auf Zeitreise. »Wir waren im Dritten Reich so alt wie ihr heute«, schärft der heute 88-jährige Professor den Jugendlichen aus Bremen und Wroclaw ein, die die Zeitzeugen auf einigen ihrer Lebensstationen in Breslau begleiten.
Hitlergruss »Mein Cousin und ich rannten weg«, erzählt Ascher. »Wir wussten, dass das nicht der richtige Ort für uns war.« Die kleine Gruppe geht nach oben. Ein Hotelangestellter öffnet die Tür zum großen Balkon. Historische Schwarz-Weiß-Bilder, Heil-Geschrei, Hitler, lachende junge Gesichter in der Menge, Marschmusik, wieder Hitler und tausendfach erhobene Arme zum Hitlergruß bilden den szenischen Hintergrund. Ascher tritt auf den Balkon hinaus und winkt den 17- bis 18-Jährigen zu: »Kommt mit! Hier stand er!«
»Er hasste Juden. Er hasste Ausländer. Er war das Monster aller Monster.« Historische Aufnahmen scheinen die Bilder in Aschers Kopf zu spiegeln, seine Erinnerungen an die damalige Zeit. Wehende Hakenkreuz-Fahnen, schmetternde Marschmusik, jubelnde Menschenmengen. Ascher wendet sein Gesicht den herbstlichen Sonnenstrahlen zu, schließt für einen Moment die Augen und sagt dann: »Ich empfinde Freude darüber, dass wir Hitler besiegt haben. Ich habe ihn als Jude überlebt und … kann nun das schöne Wetter hier auf diesem Balkon genießen. Das ist ein sehr, sehr gutes Gefühl.«
Gemeinde Bis in die 30er-Jahre hinein gab es in Breslau mit rund 25.000 Juden die drittgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands nach Berlin und Frankfurt am Main. Die meisten deutschen Juden gehörten der konservativen Strömung und dem Reformjudentum an, besuchten die liberale Neue Synagoge oder die modern-orthodoxe Synagoge zum Weißen Storch, die als einzige – da sie in einem Hinterhof lag – die Kristallnacht 1938 unbeschadet überstand.
Seit den 20er-Jahren lebten in Breslau auch rund 2000 sogenannte Ostjuden. Sie waren meist orthodox und sprachen zu Hause Jiddisch oder Polnisch. Die Kinder besuchten die jüdische Gemeindeschule. Auch die Aschers kamen aus Polen nach Breslau. »Aber ich war schon vom Mutterleib an eine Zionistin«, scherzt die 92-jährige Esther Adler. Sie ist die ältere Schwester von Abraham Ascher.
Schoa In dem Film Wir sind Juden aus Breslau lassen die Berliner Regisseure Karin Kaper und Dirk Szuszies jüdische Kinder und Jugendliche der 30er-Jahre zu Wort kommen, die das Inferno der Schoa überlebt haben. Die einen konnten gerade noch rechtzeitig nach Palästina, Großbritannien oder Amerika entkommen, die anderen wurden verhaftet, kamen ins KZ, wurden von alliierten Soldaten befreit oder konnten während der Todesmärsche fliehen.
Die Einzelschicksale könnten kaum unterschiedlicher sein. Gemeinsam ist allen nur der unbedingte Überlebenswille, die Hilfe innerhalb der Familie, oft auch Glück – und die Geburtsstadt Breslau. Nach dem Krieg kehrte kaum einer der einst 25.000 Breslauer Juden in die nun polnische Stadt zurück. Die meisten waren tot, die anderen in alle Welt zerstreut.
Die Schluss-Szene schlägt noch einmal eine Brücke in die Gegenwart. Dem Marsch der gegenseitigen Achtung, mit dem die heutige polnisch-jüdische Gemeinde und viele Stadtbewohner an die Pogromnacht im einst deutschen Breslau erinnern, steht der Aufmarsch polnischer Nationalisten gegenüber, die unter lautem Johlen mitten auf dem Breslauer Rathausplatz eine »Judenpuppe« verbrennen – mit Schläfenlocken, schwarzem Kaftan und EU-Flagge.