konferenz von Évian

Zehn Tage am Genfer See

»Großbritannien ist kein Einwanderungsland«: der britische Diplomat Lord Winterton im Juli 1938 in Évian Foto: ullstein bild - Heinrich Hoffmann

Die Konferenz von Évian gilt heute gemeinhin als die verpasste Chance der Staatengemeinschaft, die deutschen und österreichischen Juden vor dem Holocaust zu retten. Man versteht sie als den Moment, in dem die Vertreter von 32 Staaten die Juden bewusst ihrem Schicksal überließen.

Wird diese Perspektive, die eine Linie von Évian nach Auschwitz zieht, jedoch gedreht und die Konferenz in ihrem eigenen zeitlichen Kontext und aus der Per­s­pektive der jüdischen Zeitgenossen betrachtet, so verändert sich das Bild.

Teilnehmer Neben den Diplomaten reisten am 5. Juli 1938 Repräsentanten von 21 jüdischen Organisationen in den französischen Kurort am Genfer See, um über die Situation der jüdischen Flüchtlinge zu beraten. Geladen hatte US-Präsident Franklin Delano Roosevelt.

Nazi-Deutschland Nachdem die im März 1938 erfolgte Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland und die anschließenden Pogrome in Wien weltweites Entsetzen ausgelöst hatten, sollten Möglichkeiten zur Auswanderung und Aufnahme von mehr als einer halben Million Juden gefunden werden. Bezeichnet wurden diese allerdings als »politische Flüchtlinge« – aus Sorge, Regierungen in Osteuropa könnten die Gelegenheit nutzen, die jüdische Bevölkerung ihrer Länder ebenfalls zur Auswanderung zu drängen. Einen möglichen jüdischen Exodus aus Europa wollten alle Beteiligten vermeiden, auch die Emissäre jüdischer Organisationen, die mit großen Hoffnungen nach Évian kamen.

Die jüdische Öffentlichkeit reagierte prompt auf die Einladung: Hilfsorganisationen, die seit 1933 die Auswanderung der deutschen Juden betreuten, bereiteten schriftliche Interventionen vor.

Neben Persönlichkeiten, die später Bekanntheit erlangten, wie Golda Meir und Nahum Goldmann, kam auch Salomon Adler-Rudel nach Évian. Als Zionist und Sozialarbeiter war er seit Jahrzehnten mit den Problemen der jüdischen Migration vertraut, hatte Deutschland Ende 1935 verlassen müssen und wirkte seitdem als Mittler verschiedener jüdischer Organisationen in London.

Er war der Auffassung, dass jüdisches Leben in Deutschland keine Zukunft habe, und erstellte im Auftrag der »Reichsvertretung der deutschen Juden« mögliche Auswanderungspläne. Mit Évian verband er die Aussicht, innerhalb der nächsten vier Jahre für eine Viertelmillion Juden eine neue Heimat in Westeuropa oder Übersee zu finden. Dabei war er auf die Gunst der Regierungen angewiesen. Adler-Rudel und die anderen Akteure, die im Namen derjenigen sprachen, über deren Schicksal auf der Konferenz verhandelt wurde, waren laut Völkerrecht keine gleichberechtigen Delegierten in Évian. Ihre Präsenz blieb auf kurze Anhörungen in einem Unterkomitee beschränkt.

Bedingungen Die Diplomaten aus den USA, Neuseeland, Kolumbien, Großbritannien, Frankreich und Kanada, die Entscheidungen treffen konnten, demonstrierten Zurückhaltung und Unverbindlichkeit. Zwar betonten alle Beteiligten die grundsätzliche Bereitschaft ihrer Länder, Flüchtlinge aufzunehmen, doch knüpften sie diese an Bedingungen. Die Vereinigten Staaten kündigten an, ihre Eiwanderungsquote für Deutsche und Österreicher erstmals voll auszuschöpfen. Das hieß, man war bereit, rund 20.000 Menschen zusätzlich aufzunehmen.

Die Vertreter aus Lateinamerika hießen allein junge Männer, die bereit wären, in der Landwirtschaft zu arbeiten, willkommen. Die europäischen Staaten wiederum verwiesen auf bereits Geleistetes und wollten allenfalls Transitländer auf dem Weg nach Übersee sein. Und das von arabischen Aufständen dominierte Palästina war von der britischen Mandatsmacht bereits im Vorfeld der Konferenz – zur Enttäuschung der Zionisten – von der Diskussion ausgenommen worden.

Als die Konferenz am 15. Juli mit der Annahme einer Resolution und der Gründung eines internationalen Komitees zu Ende ging, zeigte sich Adler-Rudel damit »absolut zufrieden«. Wie viele seiner Kollegen verband er damit die Hoffnung auf eine geordnete Auswanderung der Juden aus dem deutschen Herrschaftsbereich.

Doch die Arbeit des Komitees und dessen Verhandlungen mit der deutschen Regierung über Erleichterungen bei der Auswanderung verzögerten sich durch die Annexion des Sudetenlandes und die Novemberpogrome. Obwohl es im Frühjahr 1939 sogar zu einem vorläufigen Abkommen kam, das Adler-Rudels Plänen ähnelte, scheiterten alle Bemühungen mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

ENTTÄUSCHUNG In seinem bis heute einschlägigen Aufsatz zur Konferenz (The Evian Conference on the Refugee Question, New York 1968) kam Adler-Rudel zu der Einschätzung, dass sie eine große Enttäuschung gewesen sei. Das wenige, das erreicht wurde, habe in keinem Verhältnis zu den Hoffnungen gestanden, die mit Évian verbunden gewesen waren.

Nach der Erfahrung der Schoa erschien Évian als die verpasste Möglichkeit, das Leben Hunderttausender Juden zu retten. Die langfristig angelegte Verhandlungslösung schien aus der Retrospektive unzureichend, sofortiges Handeln die einzige Option. Sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Erinnerung wird Évian daher mehrheitlich als ein katastrophales Versagen der versammelten Staatsvertreter bewertet. Doch daraus den Schluss zu ziehen, die Welt hätte in Évian die Juden »verraten«, wie man immer wieder lesen kann, verkennt die Spezifik der historischen Situation und setzt voraus, die Beteiligten hätten die späteren nationalsozialis­tischen Verbrechen erahnen können.

Si­cher: Innenpolitische Konflikte, xenophobe und antisemitische Ressentiments sowie die Sorge, die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland zu gefährden, führten zur gleichgültigen Haltung der meisten Staaten gegenüber den Flüchtlingen. Doch konnte man sich zu keinem Zeitpunkt der Folgen dieser Haltung bewusst sein.

Entsprechende Vorwürfe sind zwar moralisch nachvollziehbar, aber ahistorisch. Die heutige Erinnerung an die Konferenz von Évian muss sie an erster Stelle in ihren historischen Kontext stellen.

Der Autor arbeitet am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig an einer Promotion zur Ereignis- und Wirkungsgeschichte der Konferenz von Évian.

USA

Der Lautsprecher

Howard Lutnick gibt sich als Architekt der amerikanischen Zollpolitik. Doch der Handelsminister macht sich mit seiner aggressiven Art im Weißen Haus zunehmend Feinde

von Sebastian Moll  18.04.2025

Ungarn

Die unmögliche Geige

Dies ist die zutiefst berührende Geschichte eines Musikinstruments, das im Todeslager Dachau gebaut und 70 Jahre später am Balaton wiedergefunden wurde

von György Polgár  17.04.2025

Medien

Noa Argamani ist auf der »Time 100«-Liste

Alljährlich präsentiert das »Time Magazine« die 100 einflussreichsten Menschen der Welt. 2025 ist auch eine freigelassene israelische Geisel dabei

 17.04.2025

USA

Neuauflage von Weinstein-Prozess startet

Vor gut einem Jahr überraschte ein Gericht in New York die Welt und hob das historische Vergewaltigungsurteil gegen Harvey Weinstein auf. Nun wird über die Vorwürfe erneut verhandelt

von Benno Schwinghammer  14.04.2025

Türkei

Die Optimistin

Liz Behmoaras schrieb über das jüdische Leben im Land – und für das Miteinander. Ein Nachruf

von Corry Guttstadt  14.04.2025

Ägypten

Gefährliches Paradies

Der Sinai ist einer der wenigen Urlaubsorte im Ausland, den Israelis auf dem Landweg erreichen können. Gern auch zu Pessach. Aber zu welchem Preis?

von Matthis Kattnig  11.04.2025

Feiertag

Putzen, Plagen, Playmobil

Neben Mazza und Haggada bietet Pessach Raum für ganz neue, individuelle Rituale. Wir haben uns in sieben Familien in Europa und Israel umgehört

von Nicole Dreyfus  11.04.2025

Israel-Boykott

Johnny Rotten nennt Hamas »einen Haufen von ›Judenvernichtern‹ «

Eine irische Zeitung hat versucht, den Ur-Punk Johnny Rotten vorzuführen, der sich kraftvoll gegen einen Boykott Israels wehrt. Das ging gründlich schief

von Sophie Albers Ben Chamo  10.04.2025

USA

Eine Hochschule und ihr LGBTQ-Klub

Die einen feiern den »Meilenstein für queere Juden«, die Yeshiva University rudert zurück. Nicht nur die orthodoxe Gemeinschaft ist verwirrt

von Sophie Albers Ben Chamo  10.04.2025