Eine junge Japanerin inmitten von Trümmern, ein aus dem Ruder gelaufenes Atomkraftwerk, eingestürzte Häuser, entwurzelte Bäume. Ein Jahr ist es her, dass diese Bilder und Tausende weitere um die Welt gingen. Am 11. März 2011 löste ein schweres Erdbeben an der japanischen Ostküste einen Tsunami aus. Die Folgen waren verheerend. Tausende Menschen kamen ums Leben, Zehntausende wurden obdachlos. Ein Jahr nach der Naturkatastrophe und dem Reaktorunfall im Atomkraftwerk Fukushima ist das Leben für viele Japaner noch weit von der Normalität entfernt.
Zahlreiche Hilfswerke aus der ganzen Welt unterstützen die Betroffenen seitdem. Auch jüdische Organisationen sind darunter. Eine der größten ist das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), kurz JOINT genannt. Es finanziert im Osten Japans regionale Zentren, in denen Erdbebenopfer betreut werden, organisiert Workshops für Obdachlose und hat das »Hibuki«-Programm für Kinder ins Leben gerufen. Benannt nach dem Plüschhund Hibuki soll es helfen, Traumata zu lindern.
So kamen im August zwei israelische Psychologen, Flora Mor und Shai Hen-Gan, mit 180 Plüschhunden nach Japan, um ihr Wissen an die Kollegen von der dortigen Puppentherapie-Vereinigung weiterzugeben. Der Anblick der traurigen Hundegesichter öffne die Seelen traumatisierter Kinder, sagen Mor und Hen-Gan. Das Programm wurde nach dem Libanon-Krieg 2006 in Israel entwickelt und mit Erfolg angewandt.
Traumata Mit Spenden von rund 2,6 Millionen Dollar – das Geld stammt vor allem aus jüdischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten – hat der JOINT bislang mehr als 130.000 Erdbebenopfern in Japan geholfen. »Nach der Katastrophe sahen wir, dass es in den am schwersten betroffenen Gebieten nötig war, sofort mit den Menschen zu arbeiten, vor allem mit Obdachlosen und traumatisierten Kindern«, sagt JDC-Geschäftsführer Steven Schwager.
Seine Organisation arbeitet dabei mit der jüdischen Gemeinde Japans und der örtlichen Nichtregierungsorganisation JEN zusammen. Gemeinsam unterstützen sie mehrere Obdachlosenheime, die voraussichtlich noch weitere zwei bis vier Jahre betrieben werden müssen, denn nach dem Erdbeben fehlen in der Region Tausende Wohnungen.
Außerdem entstanden mithilfe des JDC 13 kommunale Zentren in Ishinomaki, der Stadt, wo der Tsunami am stärksten wütete. In den Zentren werden Obdachlose medizinisch versorgt und psychisch betreut, sie erhalten Rechtsbeistand und lernen in Workshops, mit Konflikten umzugehen. Denn das Wohnen auf engem Raum läuft nicht immer reibungslos ab.
Auch an die Betreuung älterer Menschen ist gedacht. Manchen helfen kleine Handarbeiten, die psychischen Folgen des Erdbebens zu verkraften und allmählich wieder zurück ins normale Leben zu finden. So nimmt die 70-jährige Shoko in einem Wohnheim für Obdachlose in Omori Danchi regelmäßig an einem Workshop teil, in dem nach alter japanischer Art Figuren aus Papier gefaltet werden. »Als ich die anderen falten sah, erinnerte ich mich daran, wie gern ich das früher gemacht habe«, sagt sie. »Ich wunderte mich, wie ich das vergessen konnte. Und bald merkte ich, dass ich geistig sehr erschöpft war. Es fiel mir schwer, fröhlich zu sein und vor anderen Menschen zu lachen.«
Behinderte Neben Organisationen aus dem Ausland hat sich auch die jüdische Gemeinde in Tokio an der Katastrophenhilfe beteiligt. Etwa 2.000 Juden leben in Japan. Sie waren vom Erdbeben nicht betroffen und haben sich danach zügig daran gemacht, mit dem JOINT Hilfe für die Opfer zu organisieren. Antonio Di Gesu, Rabbiner der jüdischen Gemeinde Tokio, sagt, es sei wichtig gewesen, dass seine Mitglieder sofort mit jüdischen Hilfsorganisationen aus dem Ausland zusammengearbeitet hätten.
Nur so hätten sie die Opfer schnell und effektiv erreichen können. »Wir wollten, dass Japan sieht, dass wir uns um unser Land und sein Volk kümmern«, sagt Rabbi Di Gesu. Gemeinsam mit dem JOINT hat seine Gemeinde mehrere Projekte ins Leben gerufen, um Kindern, Hörgeschädigten und Körperbehinderten in der Krisenregion zu helfen.
buddha-tempel Der starke Einsatz jüdischer Organisationen wirkt inzwischen zurück. Dass Israels Regierung Japan nur eine Stunde nach dem Erdbeben offiziell Hilfe anbot und sich israelische Spezialisten sofort auf den Weg ins Katastrophengebiet machten, rechnen viele Japaner den Juden im Land hoch an. »Es hat mich überrascht, als mir kürzlich jemand dafür dankte.
Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um meinem Gegenüber klarzumachen, dass nicht alle Juden aus Israel kommen«, sagt Di Gesu, der aus Italien stammt. Besonders glücklich ist der Rabbiner darüber, dass sich seine Gemeinde am Wiederaufbau des buddhistischen Komyogi-Tempels in Oshu beteiligt. »Vielleicht ist dies das großartigste Beispiel für die Verbindung zwischen uns Juden in Japan und unseren Nachbarn«, sagt er.
Auch Chabad-Rabbiner Mendi Sudakevitch half, als es nötig war. Er hatte unmittelbar nach dem Erdbeben bei einem Großhändler Decken und Lebensmittel gekauft – Reis, Zucker, Mehl, Nudeln – und sie mit Transportern in die Krisengebiete gebracht. Inzwischen beteiligt er sich nicht mehr an Hilfsprojekten im ehemaligen Katastrophengebiet.
Aber auch ihm fällt auf, dass die japanische Mehrheitsgesellschaft heute anders auf die Juden schaut als noch vor einem Jahr. »Früher wussten viele gar nicht, dass es überhaupt Juden gibt«, sagt Sudakevitch, »doch wenn ich heute irgendwohin komme, sagen die Leute: ›Ach, Sie sind der Rabbi aus dem Fernsehen. Ich habe in den Nachrichten gesehen, wie Sie damals Mehl verteilten‹.«