Hoch oben, auf einem der erloschenen Vulkankegel Hawaiis, hat Reuben Lelah ein Refugium geschaffen, in dem chronisch oder todkranke Kinder und Jugendliche mehr als nur lebenswichtige psychotherapeutische Behandlung erfahren können. Seine Geschichte dürfte wohl einmalig sein.
Während unten in der Stadt Kona die Menschen schwitzen, ist hier – auf 1645 Meter Höhe – der Verkehrsspiegel gegenüber der Ausfahrt noch beschlagen, obwohl es bald auf Mittag zugeht. Die Straße selbst ist gesäumt von übermannshohen hellblauen Hortensienbüschen. Geht man durch das breite, gusseiserne Eingangstor, wird man riesigen Engelstrompeten und ihrem betörenden Duft empfangen. Alles hier atmet Großzügigkeit.
Stiftung Reuben Lelah, der Eigentümer dieses weitläufigen Terrains, ist ein Mann, der auch zu lächeln scheint, wenn er ganz ernste Themen anspricht. Auf die Frage, was das Besondere an seiner Einrichtung ist, antwortet er nach kurzem Nachdenken: »Ihre Schönheit!«. Dann erklärt der Psychotherapeut, warum er darauf Wert legt. »Kinder haben einen klaren Sinn für Schönheit. Warum sollen nur Menschen, die es sich leisten können, in ihren Genuss kommen?«
Alles, was Lelah geerbt hatte und zuvor besaß, ist in diese Anlage geflossen, die seit 2005 unter dem Namen »Loving Service Foundation« eine gemeinnützige Stiftung ist. »Mir persönlich gehört hier nichts mehr«, sagt er. »Ruhm oder Reichtum wa-ren mir immer schon gleichgültig. Aber ich hatte schon früh den Drang, einen solchen Ort zu schaffen und dafür zu sorgen, dass er schön wird.«
Rückblickend kann Lelah über all das nur staunen. Vor allem vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie und Familiengeschichte. »Meine Großeltern waren Juden aus Bagdad«, erzählt er. »Die Eltern meines Vaters emigrierten nach Singapur, wo auch mein Vater geboren wurde.« Kurz vor der Invasion der Japaner im Zweiten Weltkrieg schaffte es die Familie noch rechtzeitig, aus Singapur herauszukommen. »Und zwar mit dem vorletzten Schiff, das den Hafen verließ. Da war mein Vater gerade einmal 13 Jahre alt.«
Die Eltern der Mutter hingegen hatte es via Kalkutta nach Bombay verschlagen, wo eine große jüdische Gemeinde zu Hause ist. »Dort lernten meine Eltern sich in einer Synagoge kennen und wanderten nach ihrer Hochzeit nach Israel aus, wo ich dann 1951 zur Welt kam.« Aber das Leben im jüdischen Staat war damals hart und voller Gefahren. »Das konnte meine Mutter irgendwann nicht mehr ertragen«, erzählt Lelah. Als er fast drei Jahre alt war, packten seine Eltern die Koffer und wanderten mit ihm nach Großbritannien aus. »Beide hatten einen britischen Pass – schließlich gehörten Singapur und Indien zum Empire.« Im Alter von neun Jahren ging es dann weiter in die Vereinigten Staaten, und zwar nach Oregon.
Herkunft und ständige Ortswechsel brachten es mit sich, dass Lelahs Eltern miteinander in sieben verschiedenen Sprachen kommunizierten. »Es war manchmal ein atemberaubender Wechsel. Aber sehr wahrscheinlich hat mir das alles geholfen, an einem Ort wie Hawaii arbeiten zu können.« Doch zuvor forschte er in Großbritannien und den Vereinigten Staaten über das, was man »Progressive Erziehung« nennt, und arbeitete ein Jahr lang bei Physicians for Social Responsibility, einer von der australischen Kinderärztin Helen Caldicott gegründeten Initiative gegen Atomwaffen.
»Dann beschloss ich, mich auf die psychotherapeutische Behandlung chronisch oder todkranker Kinder und Jugendlicher zu spezialisieren.« Das geschah an der Elite-Universität Harvard. »Es war eine großartige Erfahrung. Als ich später in Kinderkrankenhäusern arbeitete, fühlte ich mich deshalb wichtig wie ein Drogenboss. Es fehlten nur noch die Goldkettchen«, erinnert sich Lelah lachend. »Natürlich sind Medikamente eine Hilfe bei Krankheiten. Aber nur, wenn man nichts anderes kennt.« Und nach einigem Nachdenken fügt er hinzu: »Zweifellos fühlte ich mich deshalb nicht unbedingt besser, weil ich in der Nähe der Institute wohnte, wo Tag und Nacht die Sirenen der Krankenwagen heulten und die Rettungshubschrauber über einem kreisten – es war wie in einem Kriegsgebiet.«
Grundstück Eines Tages schlug ihm sein Mentor vor, sich doch auf Hawaii niederzulassen. »Mir selbst wäre dieser Ort kaum in den Sinn gekommen, aber 1995 landete ich schließlich hier auf dieser Insel.« Und bereits einen Monat später eröffnete er eine Praxis in der Stadt Kona. Es sollte nicht die letzte sein. »Als meine Nachbarin einen Wasserschaden hatte und ich am Morgen meinen Computer und meine Papiere im Wasser wiederfand, zog ich um. In der nächsten Praxis gab es Ratten, deren der Vermieter nicht Herr werden konnte, und die dritte Praxis lag zwischen einem Büro des FBI und einer Steuerbehörde.« Was auf den ersten Blick niemand von außen erkennt: »Hawaii ist ein Dritte-Welt-Land, wenn auch mit Erste-Welt-Preisen.«
2003 habe er schließlich oberhalb der Stadt dieses Grundstück gekauft. Gewerbliche Nutzungen waren dort je-
doch unzulässig. »Ich erinnere mich, dass mir damals Tränen in den Augen standen. Der Sitzungssaal im Gemeinderat war so voll, dass man kaum noch stehen konnte. Entgegen allen Regeln gab mir die Planungskommission die Ausnahmegenehmigung für meine Praxis, und zwar einstimmig!«
Schwer kranken Kindern und Jugendlichen, vor allem denen aus sozial schwachen Verhältnissen, zu helfen, das betrachtet Lelah als seine Lebensaufgabe. In manchen Fällen sei zusätzlich zur Psychotherapie eine multidisziplinäre Begleitbehandlung erforderlich. »Wenn eine Familie die Mittel dafür nicht aufbringen kann, stellt sie die Stiftung zur Verfügung.«
Oftmals handelt es sich bei seinen Patienten um Nachfahren der Ureinwohner. Während Hawaii immer als typisches Südseeparadies dargestellt wird, sieht die Realität ganz anders aus: Zehn Prozent der Einwohner sind indigenen Ursprungs und gehören oft zu den Ärmsten. Das Land, von dem es heißt, es dürfe nur den Göttern gehören, hatten sich im 19. Jahrhundert europäische oder amerikanische Großgrundbesitzer angeeignet.
Nachfahren Arbeitsmigranten aus Japan, China, den Philippinen sowie zahlreiche Europäer suchten damals ihr Glück auf Hawaii. Sie schufteten einige Jahre auf einer der riesigen Zuckerrohrplantagen und ließen sich dann nieder. Ihre Nachkommen machen heute rund 90 Prozent der Bevölkerung aus. Kinder aus 13 verschiedenen Kulturen beherbergt Lelahs Einrichtung aktuell. »Wie kann man da immer die richtigen Worte finden?«
Knapp 10.000 Quadratmeter groß ist die Anlage. Patienten nach der Therapie gleich wieder in ihr altes Milieu zu entlassen, sei kontraproduktiv. Daher ist alles so konzipiert, dass auch Platz für ganze Familien vorhanden ist. »In den Gewächshäusern baue ich gemeinsam mit den Kindern Gemüse an, und wir kochen zusammen. Viele von ihnen haben noch nie eine warme Mahlzeit gegessen.« Die Abfälle kommen dann in einen Komposter, den Lelah gemeinsam mit einem zehnjährigen Autisten gebaut hat. »Den zweiten Komposter konnte der Junge dann schon alleine anlegen.« Nachdenklich fügt er hinzu: »Man darf nie unterschätzen, was das langfristig für das Selbstvertrauen eines Kindes bedeutet.«
Musik An einem Gebäude, in dem Behandlungen mit Musik und Klängen stattfinden sollen, dem sogenannten Dom, wird noch gearbeitet. Aber schon heute gibt es dort einen edlen Konzertflügel, den ein renommierter Musikinstrumente-Hersteller gestiftet hat.
Voller Begeisterung führt Lelah durch die drei Räume, die einmal vom zentralen Musiktherapieraum abgehen sollen. Einer von ihnen wird den Kindern einmal als Bibliothek dienen. Ein zweiter ist für die Angehörigen der verschiedenen Religionsgruppen als Andachtsraum gedacht, um der verstorbenen Kinder zu gedenken. Der dritte ist für physiotherapeutische Behandlungen vorgesehen – wie Osteopathie, Craniosacral-Therapie und Massage. Durch ein riesiges Panoramafenster kann man bei klarem Wetter hinunter auf die Stadt und das Meer blicken. Das Wunder der Weite ist hier selbst im Rohbau unmittelbar zu spüren.
Während er durch den geradezu parkähnlichen Garten geht – schließlich wurden dort über 550 Rosensträucher, 40 Arten von Bambus sowie zahllose andere Pflanzen auf dem ursprünglich harten vulkanischen Grund angepflanzt –, erläutert Lelah die Methoden, die seinen Therapien zugrunde liegen. »Meine Behandlungen basieren einerseits auf dem, was ich in meiner akademischen Ausbildung vermittelt bekam.« Gemeint sind Gesprächstherapie oder psychoanalytische Spieltherapie. »Aber mein Schwerpunkt liegt eher auf den Ansätzen, die ich durch meine Beschäftigung mit dem Hinduismus, dem Buddhismus, der Kabbala sowie dem Islam und vielen anderen Weisheitslehren gelernt habe.«
Eine besondere Rolle spielt dabei die alte hawaiianische Lehre des Ho’oponopono, was so viel wie »Ordnung bringen« bedeutet. Demnach leben alle Menschen in einer Art Verband, der Ohana. Dazu gehören nicht nur lebende und tote Verwandte, sondern auch Tiere und Pflanzen, Steine, Meere und Vulkane – eigentlich alles, von dem man je gehört oder es mit seinen Sinnesorganen gespürt hat. »Jede Handlung eines Mitglieds der Ohana hat Auswirkungen auf alle anderen Mitglieder des Verbands«, erklärt Lelah.
Sein Blick wandert dabei durch den Garten. »Es handelt sich um eine alte Umschreibung für eine ganz moderne Sache. Das ist reine Quantenphysik.« Und nach kurzer Pause ergänzt er: »Bei diesem Ansatz in der Therapie geht es darum, dass man zu helfen lernt und beginnt, liebevoll, fürsorglich und respektvoll zu sein und vor allem die Verbindung zur eigenen Seele zu stärken. Nur dann können junge Menschen ihren Platz in der Gemeinschaft finden, was wiederum Auswirkungen auf die gesamte Gemeinschaft hat.«
Jedes Detail auf dem Areal, berichtet Lelah, habe er selbst entworfen. Vor allem am Klang der Wasserfälle habe er mit Spezialisten lange gearbeitet. »Die Gestaltung des Doms ist mir selbst noch ein Rätsel. Zum Beispiel, warum die Fenster so sind, wie sie sind. Aber alle, die hier herkommen, sind berührt, obwohl alles noch eine Baustelle ist.«
»Von außen betrachtet sieht es für manche Menschen so aus, als ob ich kein eigenes Leben hätte. Dabei gibt es doch viele Weisen, sein eigenes Leben zu führen. Für mich fühlt es sich wie ein Vorrecht an, wie eine Ehre, dass ich das machen kann, was ich hier tue.« Und es geschieht mit Leidenschaft. »Von Eltern höre ich es öfters. Aber wenn Kinder mir erzählen, dass sie, wenn sie innerlich an einen friedvollen Ort gehen wollen, sich immer an diesen Ort erinnern, dann bedeutet mir das sehr viel.«