Zunehmend häufiger treten hass-motivierte Attacken schwarzer Amerikaner gegenüber ihren jüdischen Landsleuten zutage, ob durch Gewaltübergriffe in gemeinsamen Wohngebieten wie etwa Brooklyn oder durch Schmähtexte in den sozialen Medien. Klar ist, die Lage zwischen den beiden amerikanischen Volksgruppen hat sich zugespitzt.
Das liegt einerseits an dem seit den 60er-Jahren stark gewachsenen Einfluss radikaler islamischer Stimmen auf die Bürgerrechtsbewegung, der mit der Ablehnung Israels und der Unterstützung der Israel-Boykott-Bewegung BDS und anderen Israelgegnern einhergeht, andererseits aber auch an einem häufig unverhohlen antisemitischen Tenor.
So ist eine populäre Kernthese die, dass das Geld der Juden zur Unterdrückung der Schwarzen geführt habe und Juden gar nicht wüssten, was Rassismus ist, denn sie genössen das Privileg der weißen Hautfarbe. Eine Sichtweise, die zumindest im Kern die historische Wahrheit der Verstrickung einiger jüdischer Geschäftsleute in den Sklavenhandel in sich trägt.
ERFAHRUNGEN Schon 1967 ging der Afroamerikaner James Baldwin (1924–1987), einer der wichtigsten Schriftsteller der amerikanischen Gegenwartsliteratur, dem Phänomen in einem viel beachteten Essay für die New York Times auf den Grund, indem er ganz persönliche Erfahrungen einfließen ließ.
»Als wir in Harlem aufwuchsen, war eine entmutigende Abfolge von Vermietern jüdisch – und wir hassten sie. Wir hassten sie, weil sie schreckliche Vermieter waren und sich nicht um unser Wohnhaus kümmerten. Ein Anstrich, eine zerbrochene Scheibe, ein verstopfter Ablauf, ein verstopftes Klo, ein absackender Fußboden, eine durchbrochene Decke, ein gefährlicher Treppenlauf, die ungeklärte Frage der Müllabfuhr, das Thema Hitze und Kälte, das Problem der Kakerlaken und Ratten – alles Fragen von Leben und Tod für die Armen, speziell jene mit Kindern – mit denen wir uns so gut wie möglich arrangieren mussten. Unsere Eltern waren an perspektivlose Jobs gefesselt, um die überteuerte Miete bezahlen zu können. Wir wussten, dass uns unsere Vermieter so behandelten, weil wir Farbige waren – und wir wussten, dass wir niemals würden wegziehen können.«
Baldwin fährt fort: »Der Krämer war ein Jude, und bei ihm Schulden zu haben, war etwa so, wie bei seinem Arbeitgeber in der Kreide zu stehen. Der Schlachter war Jude, und ja, wir zahlten selbstverständlich mehr für schlechtes Fleisch als andere New Yorker. Und mit dem Fleisch bekamen wir häufig noch jede Menge Beleidigungen mit auf den Heimweg. Unsere Klamotten kauften wir von einem Juden und manchmal unsere Schuhe aus zweiter Hand. Und auch der Pfandleiher war Jude; wahrscheinlich hassten wir ihn am meisten. Die meisten Händler entlang der 125. Straße waren Juden. Ich weiß nicht, ob Grant oder Woolworth jüdische Namen sind – aber ich erinnere mich gut daran, dass es bis nach den Harlem-Aufständen von 1935 dauerte (die ersten »Rassenunruhen« in New York, Auslöser war die Falschmeldung, ein 16-jähriger Puerto Ricaner sei von Weißen erschlagen worden, Anm. d. Red.), bis es Schwarzen erlaubt wurde, wenigstens in einigen Läden, in denen sie so viel Geld ausgegeben hatten, auch als Angestellte ein bisschen was zu verdienen.«
Eine populäre These ist, »das Geld der Juden« habe zur Unterdrückung der Schwarzen geführt.
Was zunächst unversöhnlich klang und für hochemotionale politische und gesellschaftliche Debatten sorgte, war von Baldwin zwar als Streitschrift intendiert, um auf die grotesken rassistischen Ungerechtigkeiten in der US-Gesellschaft hinzuweisen, der Tenor von Baldwin war aber ein durchaus versöhnlicher und zur Solidarität aufrufender. Der Mann, der diesen Essay vor fast 56 Jahren schrieb, hatte zu dem Zeitpunkt bereits mit dem Christentum gebrochen, das ihm sein Stiefvater David Baldwin zunächst nahegebracht hatte.
Am Ende seines Textes schreibt er: »Wenn jemand einem Juden vorwirft, dass die Unterdrückung ihn nicht zu einem besseren Menschen gemacht hätte, meint er nicht den einzelnen Juden, sondern die gesamte Menschheit – und stellt zudem eine recht atemberaubende These auf. Ich weiß, dass meine eigene Unterdrückung mich nicht geadelt hat, noch nicht mal, als ich mich als praktizierenden Christen betrachtete. Ich weiß aber auch, wenn ich mich heute weigere, Juden oder irgendjemand anderen zu hassen, liegt es daran, dass ich weiß, wie es sich anfühlt, gehasst zu werden. Ich habe das von Christen gelernt und habe damit aufgehört, das zu praktizieren, was die Christen praktizieren. Die Krise, die sich in der Welt, in den Herzen und Köpfen schwarzer Menschen überall abspielt, hat nichts mit dem Davidstern zu tun, sondern mit dem alten, grob behauenen römischen Kreuz, an dem der bekannteste Jude der Christenheit ermordet wurde. Und zwar nicht von Juden.«
ASYMMETRIEN Was ist gut 55 Jahre später von Baldwins Essay geblieben? In vielem war der Text wegweisend und prophetisch. 1967 hatte Baldwin vorhergesagt, dass die ökonomischen Asymmetrien, die das System verursacht habe, der Bürgerrechtskoalition, die die beiden US-Minderheiten Juden und Schwarze so heroisch miteinander geschlossen hatten, den Garaus machen würde. Denn die strukturellen Ungerechtigkeiten würden jede authentische Empathie zwischen Juden und Schwarzen korrodieren lassen.
Terrence L. Johnson und Jacques Berlinerblau, Autoren des Buches Blacks and Jews in America: An Invitation to Dialogue (Schwarze und Juden in Amerika, eine Einladung zum Dialog), beschäftigten sich 2022 in einem ebenso spannenden Essay für das amerikanische Online-Feuilleton »LitHub« mit dem historischen Erbe des Baldwin-Textes: »Sein Essay liest sich wie eine Predigt, wenn auch eine säkulare. Er scheint eine Gruppe zu attackieren (die Juden), dabei liegen seine wahren Ziele ganz woanders.«
Baldwins Essay ist zwischen zwei Epochen angesiedelt. Vor seinem Stück gab es die Wohlfühl-These der »Grand Alliance«, des Schulterschlusses von Juden und schwarzen Amerikanern in der immer stärker werdenden Bürgerrechtsbewegung. Relativ kurze Zeit nach dem Erscheinen wurde Martin Luther King ermordet. Was Baldwin übersehen hatte, war die Tatsache, dass es seit Jahrtausenden schwarze Juden gibt – und zwar wirklich viele. Grund genug, seine Thesen zu verwerfen? Nein, sagen Johnson und Berlinerblau – und mit ihnen viele Kolleginnen und Kollegen, die mit der Materie vertraut sind. Denn die fundamentale Wahrheit, dass in einem Land, das so rigide einem Schwarz-Weiß-Muster verhaftet sei, die meisten Juden weiß seien, habe nun einmal weiterhin Bestand.
In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Bürgerrechtsbewegung zunehmend islamisiert.
Genauso wie jenes von der Wissenschaft »ethnischer Kapitalismus« getaufte Phänomen, das beschreibt, wie der Kapitalismus ethnische Identitäten gleichermaßen hervorgebracht wie auch ausgebeutet habe – die einen begünstigend, die anderen benachteiligend. In Amerika, so die Theorie, existiere dieses Phänomen seit dem Beginn des Sklavenhandels bis zum heutigen Tag. Baldwins rhetorisches Meisterstück war es, diese Debatte zu akademisieren. Er umrahmte den hitzigen schwarz-jüdischen Konflikt mit den kalten ökonomischen Strukturen des ethnischen Kapitalismus. Dass Schwarze Juden nicht leiden konnten, liege nicht an den Juden.
In einer Struktur, die an das indische Kastensystem erinnert, wurden diese »zweitrangigen« Menschen aufgrund ihrer Marginalität gegenüber weißen Christen in die nordöstlichen Städte und Ghettos abgeschoben. Schwarze und Juden teilten sich diese Räume und steckten in einer düsteren, hierarchischen Beziehung in gegenseitiger Abhängigkeit fest.
Als Nachzügler der weißen Christen, aber dennoch als Weiße, seien die Juden in dieses System der Ausbeutung eingetreten. Auch sie hätten sich an die Logik des ethnischen Kapitalismus gehalten. Diese Logik, behauptete Baldwin, diktierte sogar ihre wohlbekannten philanthropischen Impulse. Der Autor prangerte die Zirkulation von »Gewissensgeld« an. Dies bezog sich auf Spenden von Juden für Bürgerrechtsprojekte, die dem Zweck ge dient hätten, den Schwarzen »an seinem Platz« glücklich zu machen«.
»Ich halte es für ausgesprochen wenig hilfreich und für unmoralisch, Harlems Probleme den Juden in die Schuhe zu schieben«, so Baldwin damals. Das Problem, das der Autor mit seinem marxistischen Ansatz identifizierte, hatte also mit dem riesigen zivilisatorischen Apparat der Ungleichheit zu tun, nicht mit Juden.
Was Baldwin allerdings in seinem weitsichtigen Essay nicht berücksichtigte, weil sie damals erst in den Kinderschuhen steckte, war die zunehmende Islamisierung der Bürgerrechtsbewegung, die sich gegen die Lebensweise der vermeintlichen »Unterdrücker« wehren und richten musste. Im Falle der Black Panther und ihrer Anführer war sie häufig nichts anderes als frühislamistischer Antisemitismus – aus dem ebenfalls linken Blickwinkel der Unterdrückten.
BLACK POWER Der radikale Black-Power-Vorkämpfer Stokely Carmichael zeichnete ein Bild Israels als weißes, kolonialistisches Siedler-Unternehmen, das die Palästinenser – lies schwarze Amerikaner – unterdrücke. Die Dynamik der Hasspredigten von Carmichael, Malcom X & Co zündete die Lunte eines neuen rassistischen Judenhasses einer Minderheit schwarzer US-Muslime.
Diese Lunte brennt weiterhin – unter anderem in antisemitischen Ausbrüchen bei Demonstrationen von »Black Lives Matter«. Denn wo auch immer leicht entflammbares gesellschaftliches Potenzial im Verhältnis schwarzer amerikanischer Nichtjuden zu jüdischen Amerikanern liegt, ist eine neuerliche Explosion nicht ausgeschlossen. Es wäre also höchste Zeit, und gewiss auch in James Baldwins Sinn, jene »Grand Alliance« zwischen afroamerikanischen Bürgerrechtlern und jüdischen Verteidigern der US-Grundwerte neu zu beleben. Lunten glimmen schließlich mehr als genug im heutigen Amerika, dessen Gesellschaft derzeit ähnlich gespalten ist wie zu den Hochzeiten der Bürgerrechtsbewegung.