Es hatte für Aufsehen gesorgt, dass sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor einem Jahr trotz anderslautender Empfehlungen westlicher Staats- und Regierungschefs gegen eine Flucht aus Kiew entschied. Die USA hatten ihm sogar eine Fluchtmöglichkeit angeboten.
Stattdessen filmte er ein Video von sich und seinen vier engsten Beratern draußen vor dem Präsidentenbüro in einer dunklen Straße. »Wir sind alle hier«, sagte Selenskyj. Er gab sich entschlossen, in der ukrainischen Hauptstadt zu bleiben und die Unabhängigkeit der Ukraine zu verteidigen.
Schon in den ersten Tagen des russischen Kriegs, als die wenigsten erwarteten, dass das ukrainische Militär sich gegen die Russen behaupten könnte, inspirierte Selenskyj seine Landsleute zum Kampf. Er strahlt Hoffnung aus. Jede Nacht hat er sich seither in einem Video an die Nation gewandt, das in den sozialen Medien veröffentlicht wird.
Seine Stimme kann sowohl sanft als auch kräftig sein - Letzteres, um moralische Empörung über russische Gräueltaten zum Ausdruck zu bringen.
Verwüstung Selenskyj erzählt vom Zorn und dem Schmerz wegen der Verwüstung durch die Russen. Er gelobt, dass die Ukraine eines Tages wieder vollständig sein werde. Er hält daran fest, sich bei den ukrainischen Soldaten an der Front zu bedanken. Er hat den Glauben vermittelt, dass die Ukraine überleben könne.
Er war gerade einmal 41 Jahre alt, als er 2019 zum Präsidenten gewählt wurde. Er versprach dabei, gegen Korruption zu kämpfen, so wie er es in der beliebten Fernsehserie »Diener des Volkes« getan hatte. In den ersten Jahren seiner Amtszeit gelang es Selenskyj aber nicht so ganz, die Menschen im Land davon zu überzeugen, dass er als Präsident geeignet sei. Seine Umfragewerte gingen zurück.
Als Anführer seines Volks im Krieg hat der jüdische Politiker sein Ansehen gesteigert. Viele vergleichen ihn mit dem früheren britischen Premierminister Winston Churchill, der sein Land im Zweiten Weltkrieg führte, als es von Nazi-Deutschland angegriffen wurde.
Darsteller Die Russland-Expertin Fiona Hill, die für die vergangenen drei US- Regierungen gearbeitet hat, glaubt, dass Selenskyjs Leistung als Anführer im Krieg auch seiner Ausbildung als Schauspieler zu verdanken sei. Wenn von der »Rolle eines Lebens« gesprochen werde, könne diese mit einem »darstellerischen Element« zu tun haben, sagt Hill. Churchill sei im Krieg ein besserer Anführer gewesen als zu Friedenszeiten. »Und er selbst war ein Darsteller«, sagt Hill.
Selenskyj kleidete sich auch sofort nach Kriegsbeginn wie ein Anführer im Krieg: Er verzichtete auf gepflegte Anzüge und wechselte zu einem Kleidungssortiment in der Militärfarbe Olivgrün. Er trug plötzlich einen dunklen Bart. Über Nacht schien er zu altern.
Michael Kimmage, ein ehemaliger Mitarbeiter des US-Außenministeriums mit Zuständigkeitsbereich Russland- und Ukraine-Politik, sagt, die Eigenschaften von Selenskyj, die an Churchill erinnerten, seien eine Überraschung gewesen. »Er ist ein früherer Entertainer und Komiker, also steckst du ihn normalerweise nicht in diese Militärrolle«, sagte Kimmage. »Aber sie hat einfach gepasst.«
Ansprache Neben der Einheit des Landes hat sich Selenkskyj auch um Unterstützung der Weltgemeinschaft für die Ukraine bemüht. Er hat es geschafft, dass kontinuierlich Geld und Militärgüter ins Land fließen, mit denen die Ukrainer sich verteidigen konnten. Nach Dutzenden Reden per Video reiste Selenskyj im Dezember das erste Mal seit Beginn des Kriegs ins Ausland. Er traf in Washington US-Präsident Joe Biden und hielt eine Ansprache vor dem US-Kongress. Im Februar kam er nach London, Paris und Brüssel.
Er hat auf immer stärkere Waffen gedrungen und dann kontinuierlich Widerstand aus dem Weg geräumt. Vor kurzem wurden ihm Raketen mit größerer Reichweite, fortschrittliche Luftabwehrsysteme und moderne Kampfpanzer versprochen.
Zwar hat Selenskyj offensichtlich Star-Potenzial. Doch sein Berater Mychajlo Podoljak, der in dem eingangs erwähnten Video zu sehen war, spricht auch anderen Ukrainern sein Lob aus. Selenskyj habe »einen eisernen Kern, einen eisernen Willen, eine fantastische Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Mut und so weiter«, sagte Podoljak. Aber der Krieg habe vor Augen geführt, dass es in der Ukraine viele Menschen mit dem gleichen eisernen Willen gebe.
»Dieses Land kann nicht gebrochen werden, weil viele Leute immer dagegen sein werden, gebrochen zu werden«, sagte Podoljak.