Den 7. Oktober 2023 werden Juden auf der ganzen Welt niemals vergessen. »Es ist der Tag, an dem nach der Schoa die meisten Juden ermordet wurden«, wird immer wieder in den sozialen Netzwerken gepostet. Das barbarische Blutbad, das die Hamas anrichtete, erschüttert die jüdischen Gemeinden bis ins Mark. Zu der Trauer über die Verluste von Menschenleben und das Leid der Entführten kommt das Entsetzen über den Antisemitismus, der sich derzeit überall so offen zeigt.
Ich studiere für ein Jahr an der Northeastern University in Boston. Das Gefühl der Gemeinschaft hier ist stark. Seit den Massakern halten Juden und Israelis zusammen. An allen Colleges und Universitäten in der Stadt gibt es eine oder mehrere jüdische Studentengemeinden wie Hillel oder Chabad. Noch am 7. Oktober, dem Tag des Grauens, organisierten sie Gedenkzeremonien, die jetzt fast täglich stattfinden. Junge und ältere Menschen singen, eingehüllt in die blaue-weiße Flagge Israels, »Hatikwa« (deutsch: Hoffnung), die israelische Nationalhymne.
Wenig Hoffnung
Doch wenn man sich mit den Menschen unterhält, ist von Hoffnung wenig zu spüren. Obwohl die Mehrheit nicht Israelis, sondern amerikanische Juden sind, kennen viele jemanden, dessen Angehörige oder Freunde ermordet oder verschleppt wurden. Der Umfang des Verlustes ist unbegreiflich, viele, die hier gemeinsam stehen, haben keine Worte, nur Tränen.
»Die Bilder, die Geschichten, der Hass und die Grausamkeit erinnern mich an die Schule, als ich über den Holocaust lernte«, erzählt Liron Rephael, Stipendiatin aus Israel für die Hillel-Organisation an der Northeastern University. »Kopf und Herz wollen das nicht begreifen.« Rephaels Job ist wegen der Bedrohungen von propalästinensischer Seite mittlerweile lebensgefährlich geworden. »Dazu habe ich Schuldgefühle«, sagt sie. »So weit weg von zu Hause zu sein, erweckt ein dauerhaftes Gefühl, dass ich nicht genug tue für Israel, mein Land.«
Mir geht es genauso. Ich bin hier, in Boston, in Sicherheit – und fühle doch mit jeder Faser meines Seins, dass ich in Israel sein sollte. Liron spricht aber auch von der »unglaublichen Unterstützung« in der jüdischen und israelischen Gemeinde. Jeden Tag würde es WhatsApp-Gruppen mit neuen Hilfsinitiativen geben, ob Schabbat-Abendessen für Israelis, Sammlungen für die Soldaten der IDF oder Gedenkzeremonien. »Alle kommen jetzt zusammen und wollen helfen. Das Jüdischsein verbindet uns alle. Ohne Wenn und Aber.«
Als unmittelbar nach dem 7. Oktober die ersten Bilder der Opfer, Vermissten und Entführten auftauchten, waren die internationalen Reaktionen auf Instagram, TikTok und in anderen Netzwerken voller Empathie und Schock. Doch es dauerte nicht lange, da begannen andere, das Grausamste, was man sich vorstellen kann, zu rechtfertigen: Die Hamas-Mörder seien »Freiheitskämpfer«, ist ein wiederkehrendes Argument.
Und: »Die Israelis haben es verdient.« Diese Sätze schockieren mich und meine Freunde zutiefst. Man sah die Bilder von Babys, Kindern und Holocaust-Überlebenden, die ermordet, misshandelt oder gekidnappt wurden. Und das ist die Reaktion? Eine, die der grundlegenden Menschlichkeit so vollständig widerspricht? Wo ist das Mitleid?
Die Hamas schlachtet Unschuldige ab – Unzählige feiern ihren Judenhass
Nach einigen Tagen der Entrüstung bin ich nicht mehr überrascht, sondern nur noch unendlich traurig. Und verzweifelt. Als ob wir Israelis wirklich noch eine Bestätigung gebraucht hätten, bekamen wir sie trotzdem. Die Hamas schlachtet Unschuldige ab, ruft dazu auf, noch mehr Juden zu töten – und Unzählige feiern ihren Judenhass in den sozialen Medien.
Viele, mit denen ich rede, sehen es aus diesen Gründen als ihre Aufgabe, zu erklären und auf eine Art wie Diplomaten für Israel zu argumentieren. Eine Aufgabe, die nicht weniger wichtig ist als der direkte Kampf gegen die Hamas. Sie findet vor allem in den sozialen Medien statt. So sammelt zum Beispiel eine Initiative israelischer Studenten der Harvard University die Geschichten von Überlebenden und veröffentlicht diese auf Instagram und TikTok. Innerhalb weniger Tage haben sie weit mehr als 100.000 Follower und über eine Million Klicks bekommen.
Besonders engagiert sind die Israelis im Ausland. Für viele ist es die einzige Möglichkeit, in der Ferne aktiv zu werden. Sie kontern Hass-Posts von propalästinensischen Personen oder Gruppen mit Fakten aus Israel, leiten Videos weiter, diskutieren und identifizieren Fake News. Yael, die mit ihrem Freund für ein Semester in Boston ist, meint: »Es ist das Mindeste, was wir jetzt für Israel tun können.«