Wer nach Esch-sur-Alzette kommt, erlebt eine Stadt im Aufbruch. Neben ehemaligen Hochöfen stehen moderne Universitätsgebäude, dazwischen neue Wohnhäuser und alte Industrieanlagen. Bis vor einigen Jahren war die zweitgrößte Stadt Luxemburgs mit ihren heute rund 35.000 Einwohnern außerhalb des kleinen Großherzogtums und der deutsch-französischen Grenzregion kaum bekannt.
Rund 20 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Luxemburg-Stadt gelegen, fristete sie, nachdem die Hüttenindustrie größtenteils stillgelegt worden war, ein Schattendasein. Die ehemalige Bergbau- und Industriestadt galt als Schmuddelkind des Landes. Dies scheint sich inzwischen zu ändern. Denn vor einigen Jahren wurde Esch zur Kulturhauptstadt Europas 2022 gekürt, gemeinsam mit der litauischen Stadt Kaunas und der serbischen Stadt Novi Sad.
vielfalt Ein Jahr lang will »Esch2022« unter dem Motto »Remix Culture« die Geschichte der Region erzählen – von der Stahlindustrie bis ins digitale Zeitalter. Das große Schlagwort ist »Vielfalt«: Menschen aus 120 Nationen leben in Esch. Unter ihnen auch die kleine jüdische Gemeinde, die man 2009 fast schließen wollte, denn sie zählte nur noch 15 Mitglieder.
»Damals waren wir modern-orthodox«, sagt der heutige Gemeindevorsitzende David Weis, »inzwischen sind wir eine liberale Gemeinde, die einzige im Land. Wir haben das Schritt für Schritt unternommen.« Man sei sehr behutsam vorgegangen, sagt Weis, es habe niemand brüskiert werden sollen. Vor allem die alteingesessenen Mitglieder galt es mitzunehmen.
Die einstige Bergbau- und Industriestadt galt lange Zeit als Schmuddelkind des Landes.
Weis’ Vorgänger Robi Wolf (73), der die Gemeinde bis 2020 leitete, erzählt, dass er damals viel über das Reformjudentum gelesen und sich etliche liberale Gemeinden angeschaut habe, um zu sehen, wie sie funktionieren. Schließlich lernte er über eine Bekannte in Brüssel einen jungen Mann kennen, der sich am Leo Baeck College in London zum liberalen Rabbiner ausbilden ließ: Nathan Alfred. Der begleitete die Escher Juden auf dem Weg ins liberale Judentum.
Eines Tages um das Jahr 2010 habe Nathan Alfred, während er den Gottesdienst leitete, gesagt: »Wie wäre es, wenn sich die Damen neben die Herren setzen?« Bald darauf seien dann die Frauen beim Minjan mitgezählt, aber noch nicht zur Tora aufgerufen worden, erzählt David Weis. »Und so ging es immer weiter. Das hat sich ganz allmählich ergeben.«
KÜHLBOX Der 37-jährige Weis ist in Luxemburg aufgewachsen, hat in Tübingen, in Schottland und in Oxford Altphilologie studiert und arbeitet heute als Diplomat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dort lebt er die Woche über. Wenn er am Freitag zurück nach Esch kommt, hat er manchmal eine Kühlbox dabei, in der er koscheres Fleisch für die Gemeindemitglieder mitbringt. Auch die Mazzot bezieht die Escher Gemeinde aus Straßburg, einer Stadt mit regem jüdischen Leben und entsprechender Infrastruktur.
Ansonsten gebe es kaum Kontakt zu den Gemeinden im benachbarten Frankreich, sondern eher ins rund 70 Kilometer nordöstlich gelegene Trier, sagt Weis. Dies liege daran, dass der Escher Rabbiner Alexander Grodensky, wie auch die meisten Trierer Gemeindemitglieder, aus der ehemaligen Sowjetunion stammt – während die Gemeinden in Frankreich vor allem durch sefardische Zuwanderer aus Nordafrika geprägt seien.
Inzwischen zählt die Escher Gemeinde rund 300 Mitglieder. Die meisten sind Expats, die in der IT-Branche oder bei den EU-Institutionen in Luxemburg-Stadt arbeiten.
»Wir sind eine sehr diverse Gemeinde«, sagt Weis. Es gebe etliche Mitglieder, die aus den USA stammen oder auch aus Südamerika. »Der Finanzplatz Luxemburg ist für Amerika sehr wichtig«, so Weis. Es gebe auch Gemeindemitglieder, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, und neuerdings habe er sogar Anfragen von Marranen aus Portugal erhalten, die in Luxemburg leben.
Was Weis besonders betont: »Wir haben auch rund 40 Mitglieder, die aus Esch stammen. Sie sind die Nachfahren der Gründerfamilien.«
GESCHICHTE Als im 19. Jahrhundert nahe der Stadt Eisenerzvorkommen entdeckt wurden und man es abzubauen begann und in Hütten zu Eisen und Stahl verarbeitete, kamen auch Männer aus Polen nach Esch, die dort in Bergwerken und in der Stahlindustrie gearbeitet hatten. Einige von ihnen waren jüdisch. Gemeinsam mit jüdischen Familien aus dem Elsass gründeten sie Ende des 19. Jahrhunderts in der Stadt eine jüdische Gemeinde.
Die elsässischen Familien wollten nicht in ihrer Heimat bleiben, nachdem Frankreich die Gegend 1871 an Deutschland hatte abtreten müssen. Esch, das unmittelbar an der Grenze zu Frankreich liegt, erlebte damals eine große wirtschaftliche Blüte, die fast 100 Jahre anhielt.
Seit 2010 hat sich die Gemeinde von einer modern-orthodoxen zu einer liberalen gewandelt.
Die neu gegründete jüdische Gemeinde beauftragte einen Architekten und ließ sich 1898 eine Synagoge bauen. Kein halbes Jahrhundert später, 1941, wurde das Gebäude während des Zweiten Weltkriegs von den deutschen Besatzern zerstört. An der Place de la Synagogue im Stadtzentrum erinnert heute ein Denkmal an das einstige Bethaus. Der Großteil der luxemburgischen Juden wurde während der Schoa deportiert, viele wurden ermordet. Nur wenige kehrten nach 1945 zurück. Der luxemburgische Staat ließ Anfang der 50er-Jahre in der Rue du Canal eine neue Synagoge errichten.
auswirkungen Dort amtiert seit 2015 Rabbiner Alexander Grodensky. Der 39-Jährige sagt: »Wir freuen uns, dass Esch Kulturhauptstadt ist, bestimmt wird die Stadt dadurch attraktiver.« Grodensky hofft, dass das Kulturhauptstadtjahr auch Auswirkungen auf die jüdische Gemeinde haben wird. »Wenn Kulturveranstaltungen bei uns stattfinden, dann kommen vielleicht auch Leute und erfahren, dass es uns in der Stadt gibt.«
Die Gemeinde ist mit mehreren Veranstaltungen am Kulturhauptstadtjahr beteiligt. So finden im Laufe des Jahres einige Vorträge in der Synagoge statt, im Dezember wird zu einem Tag der Offenen Tür ins Bethaus eingeladen, und im Herbst soll es in einer Kirche ein Konzert mit jüdischer Musik geben. Bereits stattgefunden hat ein Workshop zu hebräischer Kalligrafie, den ein Mann aus der Gemeinde geleitet hat. Und ein weiteres Gemeindemitglied, der Maler Robi Gottlieb-Cahen, war mit einer Ausstellung seiner Bilder am Kulturhauptstadtjahr beteiligt.
Der 73-Jährige gehört zu einer der wenigen alteingesessenen Escher jüdischen Familien. Dass die Gemeinde liberal geworden ist, begrüßt er: »Der Vorteil ist, dass wir jetzt schneller einen Minjan zusammenbekommen«, sagt er und lacht.