David Abnerov sitzt in der Tifliser Abendhitze auf einem Holzstuhl vor seinem kleinen Koscher-Laden, dem einzigen in der Stadt. Früher liefen die Geschäfte besser. David hat georgisches und türkisches Bier, Mineralwasser und Limonaden, Fruchtsäfte, abgepackten Lachs und Tunfischdosen im Angebot. Lebensmittel, die für viele Georgier inzwischen Luxusartikel sind. Die Backstube in seinem Geschäft hat der 64-Jährige vor Kurzem geschlossen. »Es ist kaum noch jemand gekommen, um Käse- und Bohnenfladen zu kaufen«, sagt er. »Es hat sich nicht mehr gelohnt.« Vielleicht wird er im Herbst, wenn seine Kunden aus dem Sommerurlaub zurückkommen, wieder am Backofen stehen. David lacht, aber es ist kein heiteres Lachen.
Optimistischen Schätzungen zufolge leben heute noch rund 10.000 bis 12.000 Juden in Georgien. Genaue Statistiken gibt es nicht. Die Mehrheit der rund 100.000 Juden, die in den 70er-Jahren in Georgien lebten, hat das Land in Richtung Israel und Westen verlassen. Diejenigen, die geblieben sind, leben meist in bitterer Armut.
Wie hart das Leben für viele Juden in Georgien ist, davon kann Irina Lipski viel erzählen. Die charmante Minskerin ist die für Georgien zuständige Leiterin des JOINT, des American Jewish Joint Distribution Committee, einer weltweit tätigen Hilfsorganisation. Als Lipski zum ersten Mal nach Georgien kam, sei sie »geschockt gewesen von den erbärmlichen Verhältnissen, in denen die Menschen leben«, sagt sie. Lipski erzählt von einem Mädchen, das durch Mangelernährung so geschwächt war, dass es sich nicht mehr aus dem Bett erheben konnte; von einer Mutter, die mit ihrem Sohn in einem Müllcontainer hauste; oder von den 40 hochbetagten Juden, die im entlegenen Bergdorf Oni in bitterer Armut leben, in den langen Wintern ihre Strom- und Gasrechnung nicht bezahlen können und keinerlei Kontakt zu ihren Kindern haben, die nach Israel ausgewandert sind.
EInkaufsgutscheine 80 Lari pro Monat bekommen Rentner in Georgien im Schnitt. Das sind knapp 34 Euro. Lipskis Team versucht zu helfen, wo es geht. Der JOINT kümmert sich um rund 2.000 alte Juden in Tiflis und anderen Städten des Landes. Man verteilt Essen auf Rädern, Einkaufsgutscheine und bezahlt für dringend nötige medizinische Behandlung und Medikamente.
Auf dem Land versucht die Hilfsorganisation, Senioren zusammenzubringen. »Ein großes Problem ist die Langeweile. Alte Leute hier sind hoch gebildet, und sie leiden sehr, wenn sie ihr Wissen mit niemandem teilen können«, sagt die JOINT-Koordinatorin. In Tiflis versuche man, vor allem Kinder und Jugendliche zu erreichen und dadurch auch ihre Eltern. So bietet das Jü- dische Haus, ein Kulturzentrum, verschiedene Freizeitaktivitäten wie Hebräisch-, Schach-, Schmink-, und Fotokurse, ein Fitnessstudio und Nachhilfe für Schüler, aber auch psychologische Betreuung. »Wir versuchen, Juden zu finden und anzusprechen, die sich noch nie in der Gemeinschaft engagiert haben«, sagt Lipski.
Viele von denen, die kaum oder nie mit der Gemeinde in Berührung kamen, stammen aus »gemischten« Familien, einem in Georgien weit verbreiteten Phänomen: In Zeiten der Sowjetunion wurde ein Kind vom Staat als jüdisch gezählt, wenn der Vater Jude war.
Elena Borschukova kommt aus einer solchen Familie. Ihr Vater, ein Jude aus Weißrussland, hatte sich bei einem Tiflis-Aufenthalt in ihre Mutter, eine ortsansässige orthodoxe Christin, verliebt. Elena wirkt optimistisch. Ihre Augen funkeln, wenn die 22-Jährige in einem hippen Café in der Innenstadt von Tiflis von ihren Plänen erzählt. Sie möchte in Georgien eine erfolgreiche Geschäftsfrau werden. Vor wenigen Wochen hat sie ihr Wirtschafts- und Psychologiestudium abgeschlossen. Nun ist sie dabei, ohne elterliche Hilfe eine kleine Reiseagentur aufzubauen, um Touristengruppen aus Israel und Europa durch das Land zu führen.
Kirchgang Schon früh habe die jüdische Kulturgeschichte sie fasziniert, sagt Elena, und nippt an ihrer Cola. »Zwei Jahre lang habe ich Hebräisch gelernt.« Elena scheint hin- und hergerissen zwischen den Kulturen ihrer Eltern. An ihrem Halskettchen trägt sie ein Kreuz, zumindest einmal pro Woche geht sie in die Kirche, wie fast alle Jugendlichen. Die georgisch-orthodoxe Kirche hat in den vergangenen Jahren massiv an Popularität und Einfluss gewonnen, der Patriarch von Tiflis ist der am meisten respektierte und wohl auch mächtigste Mann des Landes.
Dennoch hat sich Elena vor Kurzem um die israelische Staatsbürgerschaft beworben. Bei zwei Besuchen habe sie sich in das Land verliebt, sagt sie. »Ich vermisse Israel jeden Tag, an dem ich nicht dort bin.« Doch egal, wie über ihr Ansuchen entschieden wird: Ihre erste Firma will sie in Georgien gründen. Sie sagt: »Wenn ich es hier in Georgien schaffe, dann werde ich es überall schaffen.« Ressentiments gegen Juden gebe es in Georgien keine, sagt Elena. »Wenn man hier sagt, man sei Jude, dann mögen einen die Leute. Nur georgische Juden verurteilen mich, weil ich Christin bin. Das bricht mir das Herz.«
Antisemitismus ist in Tiflis kein Thema. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen viele Juden aus Osteuropa auf ihrer Flucht vor Unterdrückung und den Nazis in den Südkaukasus. Georgier erzählen gerne stolz von ihren guten Beziehungen mit den seit vielen Jahrhunderten ansässigen Juden im Land. Zyniker verwiesen hingegen darauf, dass dafür die armenische Minderheit in Georgien mit ähnlichen Vorurteilen und Ressentiments zu kämpfen hat, die anderswo Juden zugeschrieben werden.
Die Beziehungen zwischen Juden und Georgiern seien »sehr gut«, sagt auch Inga Toplischwili. Die 47-Jährige zeigt mit beiden Daumen nach oben und lacht. Sie ist die Wirtin des »7/40«, dem einzigen koscheren Restaurant in Tiflis. Sechs einfache Tische stehen in dem Kellergewölbe, an der Wand hängen ein jüdischer Kalender und ein leicht vergilbtes Bild von Jerusalem. Doch an diesem Sommerabend kommt nicht ein einziger Gast, um bei Inga zu essen oder koscheren Wodka zu trinken. »Wirtschaftlich ist es heute schwieriger für uns als 2007, als ich das Restaurant von meinem Vater übernommen habe«, sagt sie.
Georgien leidet unter der Wirtschaftskrise – und unter den Spätfolgen des Krieges mit Russland im August 2008. Die positive Entwicklung des Landes, die nach der friedlichen Rosenrevolution 2003 unter Präsident Micheil Saakaschwili begonnen hatte, ist wieder abgebremst worden. »Die meisten Touristen, die nach Georgien kommen, machen nicht in Tiflis halt«, sagt Inga Toplischwili. Wie es mit ihrem Restaurant weitergeht, will sie nicht voraussagen. Ans Auswandern denkt sie aber nicht. »Ich bin in Tiflis geboren, ich lebe gern hier, habe hier meine Freunde: Georgier und Juden«, sagt sie. Ihre Tochter wollte jedoch ein besseres Leben. Sie studiert in Israel.
Perspektive Die Zukunft der jüdischen Gemeinde in Tiflis hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung der nächsten Jahre ab, sagt auch Moris Kirkheli. Sein Handy klingelt im Minutentakt. Eigentlich arbeitet der 40-Jährige mit den kurzen schwarzen Haaren als Augenarzt in seiner eigenen Klinik.
Doch Kirkheli ist auch Besitzer des Reiseunternehmens »NES Travel«. Er koordiniert gerade drei Reisegruppen aus Israel gleichzeitig. Auch Helfer der jüdischen Jugendorganisation »Hillel Tiflis«, die Kirkheli 1996 gegründet hat und bis heute leitet, wenden sich mit Fragen an ihn. 436 jüdische Jugendliche aus Georgien hätten im vergangenen Jahr an den Sommercamps, Diskussionsrunden und Workshops der Organisation teilgenommen, sagt er. Doch ob die meisten von ihnen in Georgien bleiben werden, sei ungewiss. »Wenn sich die Lage nicht verbessert, werden viele junge Juden wegziehen, einige nach Israel, andere in die USA oder nach Europa. Leute mit einer guten Ausbildung und Ambitionen suchen nach einer Erde, in der sie gedeihen können«, sagt Kirkheli. »Wenn sich der Lebensstandard, das Geschäftsklima und die Bedingungen für Investoren hier verbessern, dann werden viele Juden nach Georgien kommen, auch solche, die keine Wurzeln hier haben. Im Moment verlassen aber immer noch viele das Land, nicht nur Juden.«
David Abnerov ist einer, der geblieben ist. Vor seinem Laden klopft er anerkennend auf den Kofferraum seines alten weißen Ladas. »Ein gutes Auto!« Der alte Wagen ist der wichtigste Besitz seiner Familie, nachdem eines seiner Häuser abbrannte und er ein zweites verkaufen musste, um die Behandlung seiner kranken Ehefrau bezahlen zu können.
Gerne wäre Abnerov nach Israel ausgewandert oder hätte das Land einmal als Tourist besucht, aber er sei an der Bürokratie gescheitert. Wenn er an die verpasste Chance denkt, steigen Tränen in seine Augen. Das Konsulat hätte so viele Dokumente von ihm verlangt, dass er schließlich aufgegeben habe: »Jeder, der die Stadt verlassen konnte, hat die Stadt verlassen. Die, die noch hier sind, leben von der Hoffnung«, sagt Abnerov. Der Hoffnung, dass georgische Juden aus Israel zurückkommen, in Georgien investieren, das Leben einfacher und besser wird, und ein paar Leute sich Lachs und Limonade in Davids Laden leisten können.