Es dauert nicht lange, bis der alte gebeugte Mann an seinem Bund unter den Dutzenden Schlüsseln den richtigen findet. Er steckt ihn ins Schlüsselloch und schließt auf. Zweimal rüttelt er an der wuchtigen steinernen Tür, dann zieht er mit aller Kraft, bis sie endlich laut knarzend nachgibt und den Weg freimacht. Nun kann der Besucher eintreten ins Mausoleum von Esther und Mordechai.
Der alte Mann, der das Grab in Hamadan hütet, möchte nur Sharif genannt werden. Seinen wahren Namen will er nicht preisgeben. Da die jüdische Gemeinde in der westiranischen Stadt sehr klein ist und keiner den Job übernehmen wollte, suchte man außerhalb der Gemeinde nach einem Verwalter. Sharif ist kein Jude.
Purim Das Grab von Esther, der Frau des Perserkönigs Xerxes I., und ihres Adoptivvaters Mordechai ist bis heute die wichtigste Pilgerstätte der iranischen Juden. Viele von ihnen kommen an Purim nach Hamadan, um der Errettung der persischen Juden durch Königin Esther im 5. Jahrhundert v.d.Z. zu gedenken. Sie hatte ihren Mann durch Fasten und Beten von seinem Plan abgebracht, alle Juden ermorden zu lassen.
Doch auch viele Muslime und Christen kommen zu den Gräbern, um Esthers und Mordechais zu gedenken. Mit hörbarem Stolz in der Stimme sagt Sharif: »Esther und Mordechai sind nicht nur Teil der jüdischen, sondern auch der iranischen Identität.«
Man betritt das Grab durch einen kleinen Spalt, den die schwere Steintür freigibt. Zuvor hat der Besucher seine Schuhe ausziehen müssen. Die Tür ist kaum einen Meter hoch. Man muss sich tief bücken, um zu den Gräbern zu gelangen. »Ein Zeichen des Respekts«, sagt Sharif.
Der Vorraum zum eigentlichen Mausoleum ist eine winzige Synagoge, in der jedoch nur noch selten gebetet wird. Durch die schmalen Fenster fällt spärlich Licht, kleine Glühbirnen erhellen das Innere, alles ist mit Teppichen ausgelegt. Einen Raum weiter findet man die letzte Ruhestätte von Esther und Mordechai. Die Decke ist hier gewölbt und hoch, unter einer dicken Staubschicht gibt ein Kronleuchter dem Raum gleichmäßiges Licht. Kaum mehr als fünf Personen finden hier Platz; dem Besucher gelingt es mit Mühe, die beiden großen, mit weißem Stoff bedeckten Holzsärge zu umrunden.
Parlament Etwa 25.000 Juden leben heute im Iran. Das sind so viele wie in keinem anderen muslimischen Land im Nahen und Mittleren Osten. Die Regierung erkennt sie als offizielle Minderheit an und gewährt ihnen Bürgerrechte. Im iranischen Parlament, der Madschles, ist ihnen ein Sitz reserviert. Der jüdische Abgeordnete Ciamak Moresadegh sagt, sie seien damit sogar »überrepräsentiert«.
Die iranische Regierung unter Präsident Hassan Rohani bemüht sich, die religiöse Freiheit als Maßstab für die Liberalität der Islamischen Republik darzustellen. So wurde erst im Dezember ein Denkmal für die jüdischen Märtyrer des Iran-Irak-Kriegs eingeweiht.
Sharif in Hamadan scheint das etwas anders zu sehen. Der frühere Mathematiklehrer, der das Mausoleum seit 18 Jahren hütet, hat schon viele iranische Juden und Touristen durch das Grab geführt. Als einzige Gegenleistung bittet er seine wenigen ausländischen Besucher um einen »schönen Kugelschreiber« für seine Sammlung. Willig beantwortet er jede Frage zu dem Grabmal. Möchte man aber etwas zur Situation der Juden im Land oder gar etwas zu Israel wissen, verkrampft sich sein Gesicht in Sorgenfalten, die Antworten werden einsilbig, und er bittet den Besucher, das Gelände zu verlassen.
Was bringt ihn dazu? Angeblich können Juden ihre Religion im Iran doch frei ausüben und in Frieden leben. »Es gibt tatsächlich keine Gewalt gegen Juden in Iran«, sagt ein Mann auf der Straße. »Aber es gibt viele Juden, die wegen ihrer Religion keine Arbeit finden oder keinen Mietvertrag bekommen.« Hinter vorgehaltener Hand wird so manche Befürchtung geäußert: Sollte jemals die Westmauer in Jerusalem durch Muslime beschädigt oder zerstört werden, dann, sagen viele, werde es Angriffe auf die Juden im Iran geben. Eine Eskalation des Nahostkonflikts würde ein schnelles Ende des iranischen Judentums bedeuten.
Auswanderung Die meisten Juden aus Hamadan leben inzwischen im Ausland. Nur noch fünf jüdische Familien gibt es in der Stadt. Zum Gebet am Schabbat kommen schon lange nicht mehr genug zusammen, obwohl das Grabmal eine funktionsfähige Kleinstsynagoge enthält.
Die größten jüdischen Gemeinden Irans sind die in Teheran, in Isfahan und in Shiraz. Allein in der Hauptstadt gibt es elf Synagogen, die allesamt in Betrieb sind. Aber es ist überaus schwer, sie zu finden. Von der Straße aus geben die wenigsten ihre Funktion preis.
Die jüdischen Gemeinden sind äußerst darauf bedacht, es mit der Regierung nicht zu verscherzen: Sie verweigern Gespräche mit Besuchern aus dem Westen, die keine offiziellen Genehmigungen und Papiere des Ministeriums für Religionsangelegenheiten vorlegen. Auch Fotos zu machen, ist verboten.
Ausländer können problemlos jede Kirche, Moschee oder jeden zoroastrischen Feuertempel besuchen. Keine Fragen sind dort Tabu, und man darf fotografieren, was und so viel man will. Mit Synagogen jedoch verhält es sich anders. In Shiraz laden den westlichen Besucher ein paar Juden zum Schabbatgottesdienst ein – aber der Synagogenvorsteher erlaubt es nicht. Er verweist auf die fehlenden Papiere. Er bittet den Gast freundlich, doch die Kirche gegenüber zu besuchen.
Israel Vor der Synagoge kommt der Besucher mit einer Jüdin, Mitte 40, ins Gespräch. Sie trägt ein langes dunkelblaues Kleid. Ihr Englisch ist gut, ihren Namen will sie aber nicht nennen. Im Hof der Synagoge erzählt sie, sie könne ihre Religion frei praktizieren – doch sei dies auf den privaten Raum und die Synagoge beschränkt. Ob sie jemals überlegt habe, nach Israel auszuwandern? Besuchen würde sie das Land gern, aber dort zu leben, das könne sie sich nicht vorstellen. Unter anderem sei sie mit der politischen Situation nicht einverstanden. »Meiner Familie und auch mir wurde Geld angeboten, damit wir Iran verlassen«, sagt sie. »Doch ich fühle mich in erster Linie als Iranerin und erst dann als Jüdin. Das hier ist mein Zuhause. Wie könnte ich meine Heimat aufgeben?«
Nicht alle sehen das so. Rund 250.000 Juden haben Iran in den vergangenen Jahrzehnten Richtung Israel verlassen. Als israelische Staatsbürger haben sie allerdings das Recht aufgegeben, jemals wieder nach Iran zu reisen. Der bekannteste Auswanderer dürfte Moshe Katzav sein, der von 2000 bis 2007 Israels Staatspräsident war. Er wurde in Yazd geboren, etwa 450 Kilometer nordöstlich von Shiraz.
Minderheit Ähnlich wie die Frau in Shiraz sehen es auch einige in der Teheraner Yusuf-Abad-Synagoge, dem größten und prächtigen jüdischen Bethaus im Iran. Der Bürgersteig ist sehr belebt, viele Menschen betreten das von außen extrem unscheinbare Gebäude. Es ist Freitagabend, der Schabbat beginnt. Eigal, ein Ingenieur aus Isfahan, erzählt von seinen Erfahrungen: »Es ist jede Woche so voll wie heute. Aber an Jom Kippur, Purim und Rosch Haschana ist hier derart viel los, dass viele in den Gängen und vor der Tür stehen müssen.«
Auf die Situation der Juden im Iran angesprochen, sagt er, es gehe ihnen »ausgezeichnet«. Er wisse um den schlechten Stand der jüdischen Minderheit in arabischen Ländern. »Die Iraner dagegen sind viel säkularer und liberaler. Ich habe mit meiner Religion noch nie schlechte Erfahrungen gemacht, und in meinem Büro bin ich der einzige Jude.« Man dürfe aber auch nicht übersehen, »dass wir einfach nicht mehr sehr viele sind«. Die meisten seien bereits nach Israel gegangen. »Das finde ich sehr schade.«
In Hamadan ist es inzwischen dunkel geworden. Viele Menschen laufen an Sharif vorbei, der das Eisentor außerhalb des Grabmals schließt. Die Besuchszeiten sind vorbei. Auch wenn er kein Jude ist, macht er sich Sorgen um die Zukunft der Grabstätte. »Wer wird sich nach mir um Esther und Mordechai kümmern?«