Wer nach Bad Ischl kommt, fühlt sich ins 19. Jahrhundert versetzt. Zwar fahren Autos, und es gibt Internet, doch das Städtchen atmet den Geist einer Zeit, die längst vergangen ist, einer Zeit, als Franz Josef Kaiser von Österreich war, die Donaumonarchie von Lemberg bis Triest reichte und »die Welt von gestern«, wie Stefan Zweig sie nannte, vermeintlich noch in Ordnung war.
Wer dem Kaiser nahe sein wollte, sah zu, dass er für die Sommerfrische ein Haus in Ischl kaufte oder zumindest mietete, denn von Juni bis September spielte hier, rund 50 Kilometer östlich von Salzburg, in der kleinen Stadt am Flüsschen Traun, umgeben von den steilen Bergen der Alpen, die Musik. Nicht nur die Musik des Kurorchesters, das auch heute noch im Kurpark spielt, sondern die ganz große Musik. In Ischl pflegten »Ihre Majestät« jahrzehntelang die Sommer zu verbringen, und häufig reiste auch die Kaiserin mit, Elisabeth – jene Sisi, die die Herzen der Untertanen erobert hatte, lange bevor sie im 20. Jahrhundert, gespielt von Romy Schneider, in einer Schmonzette zur k. u. k. Ikone der Nachgeborenen wurde.
Der Nimbus des Kaisers zog viele Österreicher an, und dies hielt sich auch nach dem Ende der Monarchie. So schrieb 1923 das »Neue Wiener Journal«, Ischl sei »eine – zugegeben liebenswürdige – Zwangsvorstellung«. Das Städtchen bewahre noch immer seine gestrige Macht, »auf seiner Esplanade ist Österreich. (…) Man braucht dort nur oft genug gesehen worden zu sein, um zu einer Persönlichkeit zu avancieren – die man nicht ist.«
»Bad Ischl hatte etwas Magisches«, sagt die Wiener Historikerin Marie-Theres Arnbom, »der Hof, der Kaiser, das Großbürgertum, die Operettengesellschaft.« Diese Aura zog auch Juden an – aus Wien und Brünn, aus Prag, Linz und Budapest.
In diesem Jahr soll in Bad Ischl wieder die Musik spielen
In diesem Jahr soll in Bad Ischl wieder die Musik spielen. Zwar kommt der Kaiser nicht zurück, aber das 14.000-Einwohner-Städtchen ist gemeinsam mit 22 weiteren Orten im Salzkammergut Europäische Kulturhauptstadt 2024. Überall hängen Plakate, an vielen Stellen wird gebaut, die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, der Besucher merkt: Die Stadt nimmt Anlauf.
Mit Fördermitteln von Bund und Land stellt Bad Ischl ein Kulturprogramm auf die Beine, das sich sehen lassen kann. Jüdische Aspekte wird es allerdings kaum geben – obwohl Juden in dem Städtchen gerade gegen Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten, sei es als Ortsansässige oder als Sommerfrischler.
Bedeutende Wiener Operettenkomponisten wie Emmerich Kálmán und Librettisten wie Bela Jenbach verbrachten in Ischl die Sommermonate. Hier schufen sie Meisterwerke wie Die Czárdásfürstin, die 1915 in Wien uraufgeführt wurde und von da ihren Siegeszug durch ganz Europa antrat. Auch Giacomo Meyerbeer, einer der erfolgreichsten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts, verbrachte mit seiner Familie viele Sommer in Bad Ischl. Ebenso der Librettist und Schlagertexter Julius Brammer sowie sein Kollege Alfred Grünwald. Sie liebten das Städtchen und zogen sich jeden Sommer dahin zurück.
Der Nimbus des Kaisers zog auch viele Juden in die Sommerfrische nach Bad Ischl.
Hier in Ischl, nicht weit entfernt vom legendären »Weißen Rössl am Wolfgangsee« entstanden zahlreiche Operetten – weshalb man die illustren Herren, die sich jeden Sommer hier trafen, augenzwinkernd gern auch als Operettengesellschaft bezeichnete. Auf der Esplanade am Traunufer gingen sie spazieren und verhandelten die Spielpläne der nächsten Saison: Komponisten, Librettisten, Operndirektoren. Geschäftsleute und Journalisten aus der ganzen früheren Monarchie mischten sich unter sie, ebenso Politiker und Beamte sowie Bank- und Fabrikdirektoren und auch Ärzte wie Sigmund Freud. Man genoss die herrliche Landschaft, man sah und wurde gesehen.
Heute sind von jenen jüdischen Sommerfrischlern nur noch die Häuser geblieben, die ihnen einst gehörten oder in denen sie logierten. An manchen erinnern Gedenktafeln an sie. So am »Hotel Elisabeth«, wo am Eingang eine Tafel an Theodor Herzl erinnert. Der Begründer des modernen Zionismus hielt sich in den 1880er-Jahren privat und später als Korrespondent der »Neuen Freien Presse« jeden Sommer in Ischl auf.
Wer heute auf der Esplanade spazieren geht, kann Andenken kaufen. An Ständen werden heiße Würstl, Kaiserpunsch oder Kaiserschmarrn feilgeboten. Ja, der Kaiser ist in Bad Ischl bis heute lebendig. Im Kaffeehaus »Zauner« in der Pfarrgasse, einer Konditorei, die einst den Hof belieferte, blickt Franz Josef von einem großen Ölgemälde in den Gastraum, und vor der Toilette schaut er den Gästen beim Händewaschen zu, mit Hut und im Trachtenjanker.
Ab Sommer 1938 war es Juden verboten, Lederhosen und Dirndl zu tragen
Wer heute durch Bad Ischl spaziert, staunt über die große Vielfalt an Trachten-Geschäften, in denen sowohl Einheimische als auch Gäste Lederhosen und Dirndlkleider kaufen. Diese Geschäfte befinden sich in bester Lage, ihre Waren sind gefragt, die Kleidung wird getragen, heute wie einst. Angesichts dessen versteht man, wie einschneidend ein Verbot war, das die Nationalsozialisten im Sommer 1938 erließen: »Juden ist das öffentliche Tragen von alpenländischen Trachten wie Lederhosen, Joppen, Dirndlkleidern, weißen Wadenstutzen usw. verboten.«
Wie mögen sich die jüdischen Feriengäste gefühlt haben, als ihnen nicht mehr gestattet war, in Tracht auf der Esplanade zu spazieren oder im Gebirge zu wandern? Sich nicht mehr so kleiden zu dürfen, wie es üblich ist, komme einer Ausgrenzung gleich, sagt die Historikerin Marie-Theres Arnbom. Genau das war beabsichtigt. Und so reisten die meisten jüdischen Sommerfrischler im Sommer 1938 gleich gar nicht mehr an. Ein paar Monate nach dem sogenannten Anschluss war den meisten ohnehin nicht nach Sommerfrische zumute, sie hatten andere Sorgen, mussten Flucht und Emigration vorbereiten.
»Schon in den Jahren zuvor hatten antisemitische Proteste zugenommen, Bad Ischl wurde in der lokalen Presse immer häufiger als ›Neu-Jerusalem‹ oder ›scheles‹ bezeichnet«, erzählt die Historikerin Nina Höllinger. Die erstarkenden Nationalsozialisten forderten schon ab 1933 für das Salzkammergut eine »arische Sommerfrische«. Und nach dem »Anschluss« Österreichs wurde sofort mit der Umsetzung dieser Pläne begonnen.
Nina Höllinger ist eine kleine schlanke Frau mit langem dunklen Haar. Sie gilt als Expertin für die Geschichte des Salzkammerguts im 20. Jahrhundert, kennt sich gut aus mit dem einstigen jüdischen Leben in Bad Ischl. Sie arbeitet im »Zeitgeschichte Museum« im benachbarten Ebensee. In der malerisch in den Alpen gelegenen Gemeinde betrieben die Nationalsozialisten ein Außenlager des KZs Mauthausen.
Für April ist in Bad Ischl die Präsentation eines neuen Buches von Nina Höllinger geplant. Es ist einer der wenigen Programmpunkte im Kulturhauptstadtjahr, die einen jüdischen Bezug haben. Die Historikerin geht in ihrem Buch der Frage nach, was mit den jüdischen Ortsansässigen und den Sommerfrischlern nach dem »Anschluss« passierte.
Höllinger steht im Schnee mitten im Stadtzentrum neben der Trinkhalle mit den klassizistischen Säulen und zeigt auf einen Metallstab mit einer roten Kugel an der Spitze. Hüfthoch ragt er aus dem Boden. »Das ist eine unserer ›Stecknadeln der Erinnerung‹«, sagt sie. Sie erzählen vom einstigen jüdischen Leben und sind an zwölf Orten im Stadtgebiet zu finden. Höllinger hat die Texte geschrieben. Gemeinsam mit den Gestaltern hat sie eine Stecknadel als Symbol gewählt, weil das Thema unter die Haut gehen soll.
Die Häuser der jüdischen Sommergäste wurden ihren Besitzern geraubt.
Höllinger öffnet den Kopf der handgroßen roten »Stecknadel«. Darin ist ein Text über »Arisierungen« in der Stadt zu lesen. Darüber ein Schwarz-Weiß-Foto des Ortes, an dem sie gerade steht. Ein riesiges Hakenkreuz prangt an einem der Häuser, darüber steht auf einem Spruchband: »Wir danken dem Führer. Sieg Heil«. Bad Ischl im Frühjahr 1938.
Den örtlichen NSDAP-Funktionären sei es nach dem »Anschluss« vor allem um die rasche »Entjudung« Ischls gegangen, erzählt die Historikerin. Man habe ein »judenreines Kurstädtchen« haben wollen. Ohne Druck von oben hätten sie die »Arisierungen« skrupellos vorangetrieben. Eine unrühmliche Rolle dabei spielte die örtliche Sparkasse. Höllinger zeigt auf ein modernes Gebäude hinter ihr: »Die Sparkasse hat zwar ein neues Gebäude, aber ihre Geschichte hat sie bis heute nicht aufgearbeitet.« Die Häuser und Villen der ortsansässigen Juden und der jüdischen Sommergäste wurden ihren Besitzern geraubt und gewinnbringend weiterverkauft, sagt Höllinger. »Der NSDAP-Ortsgruppenleiter leitete damals die Sparkasse der Stadt.«
Eines der bekanntesten »Arisierungs«-Opfer war Helene Löhner, die Frau des bekannten Operettenlibrettisten und Schlagertexters Fritz Löhner-Beda. Sie muss nach dem »Anschluss« ihr Landhaus, die berühmte Villa Felicitas, die Jahrzehnte zuvor Kaiser Franz Josef für seine Geliebte Katharina Schratt gemietet hatte, zu einem Spottpreis an die Nazis verkaufen. Vier Jahre später, im September 1942, wird Helene Löhner mit ihren beiden Töchtern im Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet. Kurz darauf erschlägt ein Aufseher im Konzentrationslager Auschwitz ihren Mann, Fritz Löhner-Beda.
»Das alles ist Teil der jüdischen Geschichte von Bad Ischl, von der im Salzkammergut erst jetzt allmählich erzählt wird«, sagt Höllinger.
»Das Salzkammergut ist keine diskursreiche Region«, begründet der Ischler Kulturmanager und Erwachsenenbildner Mario Friedwagner, warum es so lange gedauert hat, bis man sich in Bad Ischl an die jüdische Geschichte der Stadt erinnert. Man dürfe nicht vergessen: »Hier gibt es keine Universitäten, und deshalb fehlen Impulse für Diskurse. Wir brauchen die Impulse von außen, damit hier auf dem Land etwas in Bewegung geraten kann.«
Seit Kurzem setzen sich Fahrradrouten und Spazierwege mit dem jüdischen Ischl auseinander
Friedwagner erzählt von Fahrradrouten und Spazierwegen, die sich inzwischen mit dem jüdischen Ischl auseinandersetzen. »Das ist neu. Da beginnt etwas«, sagt er, Projekte würden auf den Weg gebracht.
Für eines ist Friedwagner selbst verantwortlich. Im Frühjahr sollen zwei Orte in der Stadt nach jüdischen Frauen benannt werden: der Platz vor dem Lehar-Filmtheater nach Helene Löhner und eine kleine Gasse neben der Kirche nach Betty Cohn, einer ortsansässigen Jüdin, die bis Ende der 30er-Jahre gemeinsam mit ihrer Schwester in der Nähe ein Kurzwarengeschäft betrieb. »Es gibt noch so viele Geschichten, die erzählt werden wollen!«, sagt Mario Friedwagner und atmet schwer aus.
Ein Anfang ist gemacht. Doch es wird Jahre dauern, bis alle wissen, dass Bad Ischl früher im Sommer nicht nur die Stadt von Franz Josef und Sisi war, sondern auch eine sehr jüdische Stadt.