Budapest

»Wir wollen neolog bleiben«

Oberrabbiner Róbert Frölich über ungarisches Judentum, innerjüdische Feindschaft und Antisemitismus

von Karl Pfeifer  23.08.2020 08:37 Uhr

In seiner Synagoge in der Budapester Dohány utca, der Tabakgasse: Oberrabbiner Róbert Frölich Foto: Mudra László

Oberrabbiner Róbert Frölich über ungarisches Judentum, innerjüdische Feindschaft und Antisemitismus

von Karl Pfeifer  23.08.2020 08:37 Uhr

Rabbiner Frölich, Sie amtieren seit 1993 im Dohány Templom, der größten Synagoge Budapests, der zweitgrößten Synagoge der Welt. Wie viele Beter haben Sie dort – und wie viele Juden leben überhaupt in Ungarn?
Wir wissen nicht genau, wie viele Juden in Ungarn leben. Wir haben keine Listen. Man kann von 100.000 bis 120.000 ausgehen bei Anwendung des israelischen Rückkehrgesetzes, also mindestens einem jüdischen Großelternteil. Nimmt man die Halacha als Maßstab, dann könnten es 40.000 sein. Wenn wir aber zählen, wie viele in der Früh und am Abend zum Gebet kommen, dann sind es lediglich ein paar Hundert. Und alle drei Ziffern sind wahr, und keine ist wahr.

Auch was den Antisemitismus betrifft, ist das Bild, das sich von Ungarn bietet, widersprüchlich: Einerseits läuft seit Jahren eine Hasskampagne gegen den aus Budapest stammenden Multimilliardär und Schoa-Überlebenden George Soros – andererseits gibt es in Ungarn eine lebhafte jüdische Kulturszene und großes Interesse am Judentum.
Ich sehe da keinen Widerspruch, sondern einen Zusammenhang. Es gab die Kampagne gegen Soros, die in ihrer Bildsprache antisemitisch war, es wird ein Kult betrieben um pfeilkreuzlerische Schriftsteller, und der Vizepräsident des Parlaments würdigt den Judenmörder Iván Héjjas … Diese Zeichen muss man unbedingt beachten! Doch die antisemitische Serie bewirkt das Gegenteil von dem, was die Erfinder dieser Kampagnen beabsichtigen.

Nämlich?
Ein Jude, der aus verschiedenen Gründen isoliert lebt, vielleicht, weil es in seiner Umgebung am Stadtrand oder anderswo keine Juden gibt, wird gerade wegen dieser Aktionen den Kontakt zur jüdischen Gemeinde suchen. Er möchte irgendwo hingehören, wo er geschützt wird.

Werden Juden in Ungarn bedroht?
Es gibt keine Bedrohung, das betone ich. In unserer physischen Existenz sind wir nicht bedroht – aber es macht Angst. Die Menschen fühlen sich bedroht und suchen Schutz in der jüdischen Gemeinschaft. Infolgedessen kann die antisemitische Kampagne von unserem Standpunkt aus auch Gutes bewirken.

Die größte jüdische Gemeinde des Landes, zu der auch Sie gehören, ist neolog. Was bedeutet das?
Es ist eine Orthodoxie, die das Ju­dentum unter modernen Bedingungen erlebt.

Mit einer Orgel in der Synagoge?
Richtig. Die Neologie ist in dem Sinne orthodox, dass sie nichts weglässt aus der Religion, aus dem Ritual und der Liturgie. Wir sprechen in unserer Synagoge Tabakgasse dieselben Gebete wie in der orthodoxen Synagoge in unserer Nachbarschaft. Bei uns wird auf Ungarisch gepredigt, bei ihnen jedoch auf Jiddisch. Wesentlich in unseren neologen Gemeinden ist, dass wir zwar orthodox leben, unsere Mitglieder jedoch nicht kontrollieren und nicht von ihnen erwarten, dass sie zum Beispiel zu Hause koscher essen oder den Schabbat halten. Doch in der Gemeinde ist das Essen koscher, und wir halten uns an die Regeln.

Die ungarisch-jüdische Dachorganisation Mazsihisz und die von Chabad geführte im Land ansässige Organisation EMIH sind verfeindet. Wie kam es dazu?
Der Gegensatz ist weniger ideologisch als politisch. Chabad hat hier in der Zeit vor dem Systemwechsel 1989 begonnen, aktiv zu werden. Baruch Oberländer, ein unglaublich gebildeter Rabbiner, dessen Kenntnis der Halacha ich hoch schätze, kam damals nach Ungarn und versuchte, das Jüdische wiederzubeleben. Doch Chabad versucht, sich auszubreiten und das lokale Judentum zu chabadisieren, das heißt an sein eigenes Bild anzugleichen. Dazu war die Neologie nie bereit. Wir wollen nicht Chabad und auch nicht orthodox oder Reform werden. Wir sind neologe Juden und wollen es bleiben.

Und worin besteht der politische Gegensatz zwischen den beiden Organisationen Mazsihisz und EMIH?
Die chabadnahe EMIH ist heute die von der Regierung begünstigte jüdische Gemeinde. Das ist kein Geheimnis, wer die ungarischen Zeitungen liest, erfährt, dass EMIH alles Mögliche – vor allem viel Geld – erhält. Mazsihisz hingegen bekommt das aus irgendeinem Grund nicht. EMIH erhielt im Dezember 2019 umgerechnet rund 6,6 Millionen Euro für »kulturelle Aktivitäten«.

Gibt es bei EMIH vielleicht viel mehr kulturelle Aktivitäten als bei Mazsihisz?
Natürlich nicht! Dieser Geldregen ist politisch motiviert. Doch leider gibt es auch persönliche Gegensätze.

Rabbi Köves, der EMIH in der Öffentlichkeit vertritt, nannte den Mazsihisz-Vorsitzenden András Heisler jüngst einen »Altkleiderhändler«.
Ja, und Mazsihisz bezeichnete mit nicht zu überbietender Vereinfachung den Rivalen EMIH als »Feind«.

Das ist schon mehr als nur ein Gegensatz.
Ja, das wird kein gutes Ende nehmen. EMIH war in den vergangenen Jahren ein Konkurrent von Mazsihisz, ein Gegner. Um einen Vergleich zu ziehen: die lokale Rivalität zweier Fußballklubs. Im Stadion sind sie Gegner, doch nach dem Spiel gehen sie zusammen ein Bier trinken, um über das Spiel zu diskutieren, weil sie abseits vom Fußballfeld keine Gegner sind. EMIH und Mazsihisz sind aber richtig verfeindet, und das ist nicht gut. Zwei jüdische Gemeinden dürfen nicht so zerstritten sein. Beide Gemeinden sind verantwortlich für die schlechten Beziehungen.

Was kann man tun?
Ich denke, es ist nicht wichtig, herauszufinden, wer die größeren Fehler begangen und wer den Streit begonnen hat. Wichtig ist: Wenn es zwei jüdische Gemeinden gibt, dann sollten sie doch versuchen, friedlich miteinander zu leben. Ein zweigeteiltes Judentum ist nicht gut. Wenn wir in zwei regelrecht verfeindeten Lagern stehen, sind wir sehr schwach. Unsere Stärke wäre, wenn die Welt sähe, dass wir miteinander in Frieden leben können.

Mit dem Oberrabbiner sprach Karl Pfeifer.

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