Vor dem Ausbruch des Coronavirus war der Regierung von Giuseppe Conte nur noch wenig Zeit gegeben worden. Jetzt hat er weitere strenge Maßnahmen angekündigt und das ganze Land, 80 Millionen Menschen, zur Solidarität aufgerufen.
Im Kleinen spiegelt dies auch das Schicksal von Milo Hasbani wider, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Mailand. Der Vorstand wurde erst kurz vor Beginn der Corona-Krise neu formiert, und Hasbani konnte seine Arbeit fortsetzen. Seinen Mitgliedern bietet er telefonisch Auskünfte und Unterstützung an.
»Helfen wir uns und helfen wir den anderen, wir sind eine Gemeinde, heute sind wir mehr denn je da«, ist die Devise. »Habt ihr Zweifel, was man in diesen Tagen tun kann oder nicht, braucht ihr Hilfe beim Einkaufen oder jemanden, der euch Medikamente nach Hause bringt? Wir werden unser Möglichstes tun«, vermittelt die Gemeinde ihren Mitgliedern.
Unterdessen ist am Montag Michele Sciama, der frühere Generalsekretär der Jüdischen Gemeinde Mailand, im Alter von 79 Jahren an Covid-19 gestorben.
Brit Mila, Begräbnisse, Totenwachen – all das ist erschwert.
Der Gemeindevorsitzende Hasbani hatte schon am Abend vor der staatlichen Anordnung entschieden, alle Synagogen Mailands zu schließen. Die Mitarbeiter der sozialen Dienste wenden sich aktiv an die älteren Mitglieder, um ihnen menschliche Nähe entgegenzubringen. Auch in Rom werde in ähnlicher Weise Hilfe angeboten, teilt der dortige Pressesprecher der Gemeinde, Daniel Funaro, mit.
WHATSAPP-GRUPPEN Die Lombardei bleibt mit 10.043 Fällen Anfang der Woche die am meisten betroffene Region Italiens. An zweiter Stelle kommt die Emilia-Romagna mit 2741 Infizierten.
Alberto Sermoneta aus der kleinen Gemeinde in Bologna sagt: »Zurzeit sind wir alle damit beschäftigt, die ständig auftauchenden Probleme zu bewältigen. Wir interagieren mit den Mitgliedern per E-Mail oder telefonisch. Wir bieten Talmud-Tora-Fernunterricht, benutzen ein Facebook-Profil und WhatsApp-Gruppen, um mit der ganzen Gemeinde zu kommunizieren. Vorstandstreffen werden per Videokonferenz abgehalten.«
Die Technik sei eine Hilfe, stimmt Daniel Funaro aus Rom zu, die Gemeinde »bekämpft die Ängste durch Kommunikation mit sozialen Nachrichtendiensten«, und die Mitarbeiter selbst betreiben sogenanntes »Smart Working«.
infektionen In der Region Kampanien gab es Anfang der Woche 296 Infektionen, 100 weniger als in Latium. Claudio Campagnano, Sekretär der Gemeinde aus Neapel, versichert, der Vorstand sei »immer in Kontakt via WhatsApp, selbst wenn Treffen nicht stattfinden können«.
Die Mitglieder würden durch Rundschreiben und Anrufe erreicht. Die gleiche forcierte Gelassenheit ist aus Venedig von Gemeindesekretär Michael Calimani zu hören. In der Region waren am 15. März 1989 Fälle gemeldet. »Der siebenköpfige Vorstand berät sich in Telefon- oder Videokonferenzen«, sagt Calimani.
Edoardo Segre, Koordinator der Gemeinde Turin – im Piemont zählte man zu Wochenbeginn 1030 Infizierte – erläutert, dass schon seit dem 24. Februar, wie in anderen Gemeinden auch, der Einlass ins Altersheim streng beschränkt war, etwa auf Notfälle, auch wenn es normalerweise im Judentum ein religiöses Gebot sei, Kranke zu besuchen. Selbst Mitarbeiter können nur nach medizinischer Kontrolle hinein.
UNTERRICHT Alle Lehreinrichtungen bleiben in ganz Italien noch mindestens bis zum 3. April geschlossen. Seit letzter Woche bieten viele Gemeinden Fernunterricht an, wobei die Lehrer schon vorher Hausaufgaben per E-Mail verschickt hatten. »Wir konnten diese Situation in eine Gelegenheit verwandeln, als Gemeinde zusammenzustehen«, sagt Daniele Cohenca aus Mailand. »Die Schüler brauchen nicht nur Unterricht, sondern auch Kontakt, daher wird der Stundenplan durch ›Zoom‹ oder andere Plattformen weitergeführt« – Instrumente, die Interaktivität ermöglichen.
Viele posten Rezepte, entdecken ihren Garten wieder oder geben improvisierte Konzerte.
Die jüdische Schule Mailand teilt Unterrichtsmaterial mit der aus Rom, es ist auch eine gemeinsame Klasse zum Judentum geplant. Die Rabbiner in ganz Italien haben sich entsprechend organisiert.
Ob in dieser Situation ein Mohel Hausbesuche für eine Brit Mila machen darf, ist unklar. Die neuen Notfallanordnungen der Regierung regeln auch Beisetzungen rigoros. Verboten sind Totenwachen in geschlossenen Räumen, öffentliche Besuche in Leichenhallen sowie Trauerzüge zu Fuß. Die Beisetzungen sollen unter Einhaltung strenger Hygienevorschriften und mit einem Abstand von mindestens einem Meter im engsten Familienkreis stattfinden.
Alberto Sermoneta bemerkt fatalistisch, dass »nach der jüdischen Tradition eine Trauerfeier in einem geschlossenen Raum nicht gefordert« sei, notwendig sei nur, »die Leiche beizusetzen und danach ein Kaddisch zu sprechen«.
NEBENEFFEKT Ein weiterer Nebeneffekt des Ausnahmezustandes in Italien: Familien finden sich neu. So scherzt etwa eine Mutter auf Facebook: »drei Kinder, wahrgenommen wie 21«. Viele posten Rezepte, entdecken die Pflanzen in ihrem Garten wieder oder machen endlich Ordnung zu Hause, spielen Musik in improvisierten Konzerten auf dem Balkon, machen Videopartys via Facebook, tauschen sich über Bücher und Zeitungsartikel aus.
Die Familien teilen sich außerdem Computer, damit jedes Kind Hausaufgaben machen kann, die Erwachsenen organisieren eine Arbeitsecke.
Nicht immer verläuft das ohne Probleme, Arbeiten im Homeoffice erfordert Selbst- wie auch Familiendisziplin. Immerhin schimpfen die Eltern nicht mehr mit ihren Kindern, dass sie ihre Zeit nicht mit dem Handy oder auf Facebook vergeuden sollen: Alles ist besser, als vor die Tür zu gehen – was abgesehen von einzelnen Ausnahmen strafbar geworden ist.
GEMEINDESEDER Und noch etwas macht den Gemeinden zu schaffen: Pessach steht vor der Tür. Ob aber Gemeindeseder stattfinden werden, ist mehr als fraglich. Die Gemeinde Florenz wirbt auf ihrer Internetseite, trotz der 763 Infizierten in der Region am 15. März, noch für den Einkauf vor Pessach und für zwei Gemeindesedarim.
In Turin sind sie diesbezüglich vorsichtiger: Die Gemeinde hofft auf Lieferung der bestellten Lebensmittel »kascher LePessach« und wird sich danach der Aufgabe annehmen, direkt an die Mitglieder zu liefern.
In Mailand ist der Einlass in die koscheren Lebensmittelgeschäfte nur morgens erlaubt – und auch das nur in geringem Ausmaß und für Pessach ohnehin erst ab dem 18. März. Durch Kooperation mit verschiedenen Lieferdienstleistern können die sieben koscheren Geschäfte in Mailand den Bedarf decken, während sonst aufgrund der hohen Nachfrage mehr als zehn Tage auf Online-Bestellungen gewartet werden muss. Auch in Venedig werde der Verkauf anders organisiert, erläutert Michael Calimani.
Die jüdischen Gemeinden sehen sich wegen Corona mit zusätzlichen Kosten konfrontiert.
Die jüdischen Gemeinden sehen sich auch mit zusätzlichen Kosten konfrontiert. Zwar werden etwa Heizung und Beleuchtung der Schulgebäude und Synagogen eingespart, dennoch fallen höhere Kosten für die neuen Internetangebote und erweiterten Gesundheitskontrollen vor allem in den Altersheimen an.
konsequenzen »Die Pandemie wird mit Sicherheit Konsequenzen auch bei den Aktivposten der Gemeinde haben, wir zahlen zum Beispiel für das geschlossene Museum, dessen Einnahmen ausfallen«, kommentiert Daniel Funaro aus Rom.
»Die schwierige Situation betrifft alle Aktivitäten der Gemeinde, Mitarbeiter und Strukturen, die dennoch instandgehalten werden müssen«, betont Michael Calimani aus Venedig. Und Claudio Campagnano aus Neapel kommentiert zurückhaltend: »Wir sind eine kleine Gemeinde. Sicher werden wir Schaden haben, wir hoffen nur, nicht so großen.«
Der European Council of Jewish Communities empfiehlt einen Zehn-Punkte-Katalog, darunter an erster Stelle, in den Gemeinden Krisenstäbe mit medizinischer Erfahrung zu bilden. »Bei allem Respekt für den Europäischen Verband, dieser Katalog kommt für uns zu spät«, sagt Funaro.