Oberrabbiner Goldschmidt, vor vier Wochen erschütterte der Anschlag auf eine Synagoge in Halle die Menschen in Deutschland und darüber hinaus. Wie schätzen Sie die Lage in Europa ein, was den Antisemitismus angeht?
Die jüdische Gemeinschaft insgesamt fühlt sich von drei Seiten attackiert. Da ist der islamische Fundamentalismus, der in Europa im Laufe der Jahre viel gefährlicher geworden ist – das sehen Sie an den Anschlägen etwa in Paris, Kopenhagen und Brüssel. Und wenn wir von Antisemitismus reden, hatten wir in Deutschland die Attacke von Halle am heiligsten Tag des jüdischen Kalenders, Jom Kippur. Der Täter hat sich zum einen durch das Internet und dortigen rechtsextremen Foren radikalisiert und so zu einer solchen schlimmen Attacke ermutigt gefühlt. Der Angriff von Halle hat aber auch in einem politischen Klima stattgefunden, in dem die Ultrarechte viel stärker in verschiedenen Bundesländern geworden ist. Zuletzt die Wahl in Thüringen hat gezeigt, dass sich der Stimmenanteil der AfD verdoppelt hat. Das ist die zweite Seite des Antisemitismus, weswegen die jüdische Seite verunsichert ist. Und die dritte Seite ist, dass Kritik an Israel zu Antisemitismus werden kann und sich eine rote Linie zu verschieben droht.
Vor welchen Herausforderungen stehen Juden in Europa, aber auch weltweit?
Ein großer Teil des Antisemitismus wird über soziale Medien verbreitet, Anschläge finden mitunter in Echtzeit im Internet statt. Wir sprechen von einem neuen Terrorismus, der auch durch die sozialen Medien geprägt wird. Es gibt in diesem Bereich leider keine ausreichende Kontrolle. Wir sind alle für die Meinungs- und Redefreiheit. Wir müssen aber verstehen, dass jemand, der seinen Hass über die sozialen Medien verbreitet, viel mehr Reichweite hat, als wenn er das über ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber tut. Ein Mensch kann Millionen von Menschen über das Internet beeinflussen. Über die sozialen Medien werden Menschen mitunter radikalisiert. Regierungen müssen viel mehr unternehmen, um zu kontrollieren, was über die sozialen Medien verbreitet wird, und diese auch stärker regulieren.
In Israel hat Staatspräsident Reuven Rivlin Anfang der Woche auf einer internationalen Konferenz vor wachsendem Antisemitismus weltweit gewarnt. Wie kann man dagegen noch ankämpfen?
Erst einmal müssen Internetkonzerne wie Facebook, Twitter, Instagram und andere viel aktiver gegen Antisemitismus und digitalen Hass vorgehen. Zweitens müssen Regierungen die Sicherheit jedes Menschen, jeder Gemeinde und jeder Institution gewährleisten. Wenn wir nach Halle blicken, gab es kaum Schutzvorkehrungen, und wir müssen Gott danken, dass nicht noch mehr passiert ist.
Wie könnte Sicherheit denn ganz konkret gewährleistet werden?
Es muss ein Monitoring von gefährlichen Leuten geben: Menschen, die in Beziehung mit radikalen Gruppen stehen. Hier spreche ich von »tickenden Bomben«. Und von Gruppen, die sich organisieren, um einen Anschlag zu begehen. Insgesamt muss der politische Wille da sein, Menschen, die eine Straftat begehen, konsequent zu bestrafen.
Sie halten sich gerade in London auf. Wie ist es denn aus Ihrer Sicht um die Sicherheitslage von Juden in Großbritannien bestellt?
Gott sei Dank gab es hier in den vergangenen Jahren keine Terrorattacke gegen die Gemeinde. Sie arbeitet eng mit der Regierung zusammen. Es gibt den britischen »Community Safety Trust« (CST), der seit 1984 antisemitische Vorfälle im Auftrag der jüdischen Gemeinde aufzeichnet. Die Sicherheit wird ziemlich konsequent durchgesetzt.
Wenn man über Großbritannien in diesen Tagen redet, kommt man um den Brexit nicht herum. Vor welchen Herausforderungen steht die jüdische Gemeinschaft in dem Land, was das anbelangt?
Die Gemeinschaft ist geteilt, es gibt die Befürworter des Brexit und diejenigen, die dagegen sind. Wenn sich Großbritannien von Europa abwendet, ist das für Europa nicht gut. Die politische Geschichte Großbritanniens weist viel weniger Turbulenzen als das europäische Festland auf: Es gab zum Beispiel viel weniger Revolutionen. Der Einfluss und die strategische Kultur Großbritanniens auf die europäische Politik wird fehlen. Wenn Sie zum Beispiel auf die Religionsfreiheit auf dem Kontinent schauen: In zwei Regionen in Belgien gibt es das Verbot des Schächtens, des rituellen Schlachtens. Das ist eine Attacke auf die Religionsfreiheit, und das verunsichert die jüdische Gemeinschaft. In Großbritannien gibt es keine Spaltung zwischen Staat und Kirche, daher ist die Politik dort auf diesem Feld toleranter.
Das Gespräch mit dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz führte Leticia Witte (kna).