Jüdisch, europäisch, dem Staat Israel verpflichtet, aber kritisch gegenüber dessen aktueller Regierungspolitik – das ist das Selbstverständnis von JCall, einer neuen Lobbygruppe, die am Montag im EU-Parlament in Brüssel vor die Öffentlichkeit trat.
»Wir stellen fest, dass die Existenz Israels erneut gefährdet ist«, heißt es im Gründungsappell, den bis Dienstagabend mehr als 4.500 Menschen unterzeichneten. Die meisten von ihnen sind in Europa lebende Juden, unter ihnen auch zahlreiche Prominente wie Israels früherer Botschafter in Berlin, Avi Primor, der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit und der Philosoph Bernard-Henri Lévy.
»Die Gefährdung von außen ist nicht zu unterschätzen«, wird in dem Aufruf weiter festgestellt, doch sei diese nicht die einzige Gefahr. »Eine Gefährdung liegt auch in der Besatzung und in dem Auf- und Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und in den arabischen Vierteln Ost-Jerusalems, die ein moralischer Fehler und ein politischer Irrtum sind.«
forderung Programmatik und Diktion erinnern stark an J-Street, die linksliberale jüdische Lobbygruppe in den USA, die seit zwei Jahren auf sofortigen Stopp des israelischen Siedlungsbaus und Verhandlungen für eine Zwei-Staaten-Lösung dringt. JCall betont, nicht die europäische Abteilung von J-Street zu sein, fordert aber im gleichen Sinne Frieden mit den Palästinensern und die Gründung eines palästinensischen Staates. Europa solle gemeinsam mit den USA »Druck auf beide Parteien« ausüben.
Juden in der Diaspora werden aufgefordert, sich nicht grundsätzlich mit der Jerusalemer Regierungspolitik zu identifizieren und vielmehr israelische Entscheidungen solidarisch in die richtige Richtung zu lenken. Die eigene Rolle sieht JCall darin, »den Ansichten europäischer Juden, die zu lange geschwiegen haben, öffentlich Ausdruck zu verschaffen«.
kritik Einigkeit bestand am Montag in Brüssel darin, dass man mit solchen Positionen weder unter den Juden Europas noch unter jenen in Israel eine Minderheit sei. Doch diese Behauptung findet nicht überall ein positives Echo. So erklärte der Präsident der Europäisch-jüdischen Kongresses, Moshe Kantor, der JCall-Aufruf sei »eine kleine Minderheitenmeinung unter europäischen Juden«.
Empört über die Gründung von JCall äußerte sich das Rabbinical Centre of Europe: »Wer in dieser Angelegenheit nach Druck auf Israel ruft, greift den jüdischen Staat hinterrücks an.«
Eine Gruppe von Intellektuellen um Pierre-André Taguieff, Direktor der staatlichen französischen Forschungseinrichtung CNRS, hat inzwischen einen Konkurrenzappell unter dem Titel »Raison Gar- der« (etwa: »Vernünftig bleiben«) lanciert, der binnen kurzer Zeit JCall in der Zahl der Unterzeichner übertraf. Darin heißt es, JCall laufe »den selbst erklärten Zielen entgegen«.
Richard Prasquier, Vorsitzender der französisch-jüdischen Dachorganisation CRIF, fragte in der konservativen Pariser Tageszeitung Le Figaro: »Brauchen Israelis die jüdische Diaspora, um zu wissen, was ›die richtige‹ Entscheidung ist, was die Grenzen des Landes sein sollen, das ihre Söhne und Töchter verteidigen?«
Dem entgegnet Avi Primor: »Immer hat sich Israel auf die Juden in der Diaspora berufen, immer waren sie für alles gut, nur nicht dazu, ihre Meinung zu sagen.« Der frühere Botschafter will JCall als Hilfestellung für das israelische Volk sehen, zu seiner eigenen Sicherheit zu finden.
lob In Israel selbst ist solche Hilfe nicht überall willkommen. In Blogs liest man von »Schützenhilfe für die Feinde Israels«; mehrere Redner berichten, sie seien wegen ihrer Parteinahme für JCall persönlich angefeindet worden. Die Tageszeitung Haaretz hingegen titelte am Montag: »Eine willkommene jüdische Stimme«.
Darum, ob Haaretz’ Bewertung richtig ist, JCall sei »eine neulinke Gruppe europäischer Juden«, ging ein großer Teil der Auseinandersetzung am Montag im Brüsseler Parlament. »Keine linke Stimme, sondern die Stimme der Vernunft«, so der Historiker und frühere Diplomat Elie Barnavi, »keine ideologische Bewegung, sondern eine Bewegung des Überlebens«.
Mit einer Zuordnung zur Linken habe er kein Problem, meint der Politologe Zeev Sternhell, aber ums Überleben gehe es auch ihm. Israel müsse sich von den besetzten Gebieten trennen, weil sie »eine tödliche Gefahr« für den Fortbestand des jüdischen Staates geworden seien.