Rabbi Kreimann, vor einem Jahr wurde Chile von einem schweren Erdbeben erschüttert. Das Epizentrum lag in der Nähe von Concepción, der zweitgrößten Stadt des Landes. Wie geht es Ihrer Gemeinde heute?
Unsere Synagoge war stark beschädigt. Doch heute sieht es so aus, als wäre nichts geschehen. Wir mussten alles renovieren. Zum Glück gab es unter den Gemeindemitgliedern keine Toten. Aber es war alles sehr traumatisch. Manche mussten ihre Häuser mit Stöcken vor Plünderern verteidigen. Ich selbst habe alles verloren, was aus Glas und Porzellan ist.
Wie groß ist Ihre Gemeinde?
Sehr klein. Wir sind rund 60 Personen. Orthodoxe gibt es bei uns nicht. Ich bin der Einzige, der sein Fleisch in der Hauptstadt kauft, weil es nur dort koscheres gibt.
In vielen Ländern sind die Orthodoxen auf dem Vormarsch. Auch in Chile?
In den 70er- und 80er-Jahren gab es fünf starke liberale Gemeinden und nur einige wenige orthodoxe. Mindestens ein Viertel der Juden, die früher zu den liberalen Gemeinden gehörten, haben sich der Orthodoxie zugewandt. Es besteht eine große Kluft zwischen der Orthodoxie, die stark zunimmt, und dem liberalen und konservativen Judentum.
Wie hat sich die Situation der Gemeinde seit dem Amtsantritt von Präsident Sebastián Piñera vor einem Jahr verändert?
Es wurde erstmals im Präsidentenpalast Chanukka gefeiert, und Piñera kam am Tag des Vaterlandes in die Synagoge. Zudem ist der gegenwärtige Vizepräsident und Innenminister Rodrigo Hinzpeter ein orthodoxer Jude. Die Gemeinde ist seit Langem voll integriert.
Chile hat jüngst, wie viele andere südamerikanische Staaten, Palästina als Staat anerkannt. Der Vizepräsident akzeptiert das?
Chile hat den Staat mit der Formel anerkannt, dass Israel und Palästina die Grenzen aushandeln müssen. Es gibt 250.000 Chilenen palästinensischer Herkunft. Das ist die weltweit größte Gemeinschaft außerhalb Palästinas. Fast alle sind Christen. Die Geschäftsbeziehungen zwischen ihnen und der jüdischen Gemeinschaft sind sehr gut. Der Vizepräsident versteht es gut, sich zwischen seinem Judentum und den politischen Erfordernissen zu bewegen.
Mit dem Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Concepción sprach Jürgen Vogt.