Slowakei

»Wir müssen helfen«

Bevor er nach Bratislava kam, war Kapustin sieben Jahre lang liberaler Rabbiner auf der Krim. Foto: Kilian Kirchgeßner

An den drei Grenzübergängen im Osten der Slowakei herrscht Hochbetrieb. Tausende Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wollen die Ukraine verlassen. Auf einer Plakatwand steht in kyrillischen Lettern: »Schalom! Die jüdische Gemeinde ist bereit, Ihnen zu helfen.« Darunter eine Telefonnummer.

Wer sie wählt, wird mit Rabbiner Mikhailo Kapustin verbunden. »Ich bin die erste Anlaufstelle«, sagt der 41-Jährige. »Man erreicht mich 24/7, auch am Schabbat.« Denn es gehe um Pikuach Nefesch, die Rettung von Leben.

unterstützung Mehreren Hundert Flüchtlingen hat Kapustin seit dem Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine bereits geholfen. »Ich frage, an welchem Grenzübergang die Person steht, ob sie medizinische Unterstützung oder eine Transportgelegenheit braucht.«

Die meisten, sagt Kapustin, blieben nur ein paar Tage in der Slowakei. Sie ruhen sich aus von der anstrengenden Flucht aus dem Kriegsgebiet und reisen dann weiter, vor allem nach Österreich oder Deutschland. »Wir geben ihnen Unterkunft und Essen und kümmern uns, wenn nötig, um medizinische Hilfe.«

Mehr als 100 jüdische Flüchtlinge haben sich inzwischen dafür entschieden, in der Slowakei zu bleiben.

Mehr als 100 jüdische Flüchtlinge haben sich inzwischen dafür entschieden, in der Slowakei zu bleiben. »Wir unterstützen sie dabei, Arbeit und Wohnung zu finden sowie Schul- und Kindergartenplätze«, sagt Rabbi Kapustin. Sie zu integrieren, ist eine große Aufgabe für die kleine Gemeinde.

Schätzungen zufolge leben in der Slowakei heute gerade einmal rund 2000 Juden, und nicht alle von ihnen sind Mitglieder von Gemeinden. »Wir helfen denjenigen, die nach dem israelischen Rückkehrrecht jüdischer Herkunft sind, und all deren Familienangehörigen«, sagt Kapustin. Man wolle die Familien nicht zerreißen. »Wenn sie gemeinsam kommen, unterstützen wir natürlich alle.«

KRISENTEAM Kapustin ist nicht der Einzige in der Gemeinde, der den Flüchtlingen hilft. Unmittelbar nach Kriegsbeginn hat der Verband jüdischer Gemeinden in der Skowakei sofort ein Krisenteam gebildet. Der Rabbiner ist der exponierteste Teil davon, die erste Anlaufstelle.

Bevor er nach Bratislava kam, war Kapustin sieben Jahre lang liberaler Rabbiner auf der Krim. Im Frühjahr 2014, als russische Truppen die Halbinsel besetzten, verfasste er einen offenen Brief, in dem er den Einmarsch verurteilte. Daraufhin wurde er beschimpft und bedroht.

Im Frühjahr 2014 flüchtete Kapustin mit seiner Frau und den Kindern nach Kiew.

Wenige Tage später, es war Purim, stellte er sich vor seine Gemeinde und sagte: »Was auf der Krim geschieht, gefällt mir nicht – nicht mir und auch nicht meiner Familie. Deshalb sehe ich meine Zukunft nicht auf der Krim. Ich weiß nicht, wie ich hier weiterarbeiten soll. Das sage ich, weil ich zu mir selbst und zu meiner Gemeinde ehrlich sein will.«

flucht Einen Tag später flüchtete er mit seiner Frau, einer Anwältin, und den beiden damals noch kleinen Kindern nach Kiew. Auch Kapustins orthodoxer Kollege, der orthodoxe Rabbiner der Krim, verließ damals die Halbinsel. Für Kapustin war dies bereits die zweite Flucht: Beim ersten Mal war er noch ein Kind, elf Jahre alt; damals, Anfang der 90er-Jahre, flüchteten seine Eltern vor dem Krieg in Georgien – und wählten ausgerechnet die Krim als neuen Lebensmittelpunkt.

Bis heute ist Michail Kapustin ukrainischer Staatsbürger. Er hat viele Freunde in der Ukraine und ist dem Land und seiner Entwicklung sehr verbunden. Dass er seit einem Monat keinen freien Tag mehr hatte, stört ihn kaum. »Ich bin voller Kraft«, sagt er, »wir müssen weiter helfen.« tok

Kalifornien

»Es ist okay, nicht okay zu sein«

Wie die jüdische Gemeinschaft in Los Angeles mit den verheerenden Bränden umgeht – ein Zeugenbericht

von Jessica Donath  13.01.2025 Aktualisiert

Essay

Ritt ins Verderben

Gedanken eines österreichischen Juden zu einer möglichen Kanzlerschaft des Rechtsextremisten Herbert Kickl

von Vladimir Vertlib  12.01.2025 Aktualisiert

Frankreich

Zuflucht vor Mobbing

Weil die Zahl antisemitischer Vorfälle dramatisch steigt, nehmen immer mehr jüdische Eltern ihre Kinder von öffentlichen Schulen und schicken sie auf private. Eine Erkundung in Paris

von Florian Kappelsberger  12.01.2025

Polen

Duda würde Netanjahu nicht verhaften lassen

Am 27. Januar jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal. Kommt der israelische Ministerpräsident trotz eines Haftbefehls gegen ihn?

 09.01.2025

Kalifornien

Synagoge fällt Feuern von Los Angeles zum Opfer

Die riesigen Brände gefährden auch jüdische Einrichtungen

 08.01.2025

USA

Welcome to Jiddishland

Nirgendwo sprechen so viele Menschen Jiddisch wie in New York. Und es werden immer mehr. Die Mameloschen hat die Grenzen der chassidischen Communitys längst überschritten

von Jörn Pissowotzki  08.01.2025

Social Media

Elon Musk hetzt wieder gegen George Soros

Der Berater des designierten US-Präsidenten Donald Trump bedient sich dabei erneut der Figur des Magneto aus dem Marvel-Universum

von Ralf Balke  08.01.2025

Interview

»Die FPÖ gilt als Prototyp des Rechtspopulismus«

Demokratieforscher Simon Franzmann über den Rechtsruck in Österreich

von Michael Grau und Daniel Behrendt  08.01.2025

Meinung

Der Neofaschist Herbert Kickl ist eine Gefahr für Österreich

In der FPÖ jagt ein antisemitischer »Einzelfall« den anderen, ihr Obmann will die liberale Demokratie abschaffen und könnte schon bald Kanzler sein

von Bini Guttmann  08.01.2025