Nach dem überraschend klaren Wahlsieg in der Stichwahl um das Präsidentenamt in Chile, in der sich der 35 Jahre alte Gabriel Boric vom Linksbündnis Frente Amplio mit 56 Prozent der Stimmen gegen den rechtspopulistischen Kandidaten José Antonio Kast durchsetzte, haben israelische Medien in ihrer Berichterstattung vor allem die israelfeindliche Haltung des neuen Präsidenten unterstrichen.
»Chile: Neuer Präsident ist ein scharfer Kritiker Israels, dessen Sieg Chiles jüdische Gemeinde beunruhigt«, titelte die »Times of Israel«. Und die israelische Tageszeitung »Haaretz« zitierte Gabriel Zaliasnik, ein prominentes Mitglied der jüdischen Gemeinde Chiles, mit den Worten: »Was wir von Boric hören, ist, dass Israel ein ›völkermordender‹ und ›mörderischer‹ Staat ist.«
GESTE Jüdische Gruppen in Chile posteten nach der Wahl Screenshots von Borics Antwort auf ein Geschenk der jüdischen Gemeinde Chiles im Oktober 2019 aus Anlass von Rosch Haschana. Die Gemeinde hatte Boric zum jüdischen Neujahrsfest ein Glas Honig geschickt, mit dem Wunsch nach einer »integrativeren, respektvolleren und solidarischeren Gesellschaft«.
»Ich weiß die Geste zu schätzen«, twitterte Boric damals, »aber sie (die jüdische Gemeinde, Anm. d. Red.) könnten damit beginnen, Israel zu bitten, die illegal besetzten palästinensischen Gebiete zurückzugeben.«
Als Parlamentarier unterstützte er zudem einen Gesetzentwurf, der einen Boykott israelischer Waren aus dem Golan, den Siedlungen im Westjordanland und Ost-Jerusalems vorsah.
ZUVERSICHT »Der neu gewählte Präsident Boric hatte schon immer eine harte Haltung gegenüber dem Staat Israel«, sagte Gerardo Gorodischer, Präsident der Jüdischen Gemeinde Chiles, der Jüdischen Allgemeinen. Zugleich aber zeigt sich Gorodischer vorsichtig zuversichtlich: »Ich denke, es ist ein Lernprozess, den Boric durchlaufen wird und bereits durchlaufen hat. Seit er die Vorwahlen im Juli gewonnen hat, hatten mehrere Mitglieder der Gemeinde Kontakt mit ihm, und es gab einen Prozess der Annäherung, und er hat seine Botschaft bereits in gewissem Maße gemildert.«
Schätzungsweise 18.000 Juden leben heute in Chile; nach Argentinien und Brasilien ist es die drittgrößte jüdische Gemeinde in Südamerika. Es sei eine vielfältige Gemeinde, betont Gorodischer, »sie hat Mitglieder und Wähler von der extremen Linken bis zur extremen Rechten. Die große Mehrheit der Gemeinde aber befindet sich in der politischen Mitte«.
Die Wahl des früheren Studentenführers Boric, der einen tiefgreifenden Wandel versprochen hat und Chile zu einem Sozialstaat europäischer Prägung mit höheren Renten und Mindestlöhnen umbauen will, hat bei vielen chilenischen Juden ein mulmiges Gefühl hinterlassen. Vor allem seine Nähe zur Kommunistischen Partei (PCCh) sorgt für Unsicherheit. Die hätte Borics Sichtweise auf Israel mitgeprägt, glaubt Gorodischer, insbesondere »der ihr nahestehende radikale Teil der lokalen palästinensischen Gemeinde, zum Beispiel Daniel Jadue«.
PALÄSTINENSER Chile ist mit mehr als einer halben Million Mitglieder die Heimat der größten palästinensischen Gemeinde der Welt außerhalb des Nahen Ostens. Der palästinensischstämmige Jadue, seit 2012 Bürgermeister der Hauptstadtgemeinde Recoleta und Mitglied der PCCh, war Boric bei den Vorwahlen im Sommer unterlegen, hatte danach aber dessen Präsidentschaftswahlkampf unterstützt.
Jadue ist in der Vergangenheit immer wieder mit verstörenden Aussagen aufgefallen. So beschuldigte er Juden, die Medien in Chile zu kontrollieren und unterstellte ihnen wegen ihrer Verbundenheit mit Israel eine doppelte Loyalität. Aus der jüdischen Gemeinde werden ihm deshalb immer wieder Antisemitismus und Judenfeindlichkeit vorgeworfen.
Borics Äußerungen sind zwar gemäßigter, aber dass er sich für Palästina einsetze, seien eine Realität, sagt Gorodischer, ebenso wie seine israelkritischen Aussagen. »Er hat es gesagt, ohne jeden Zweifel, er hat es in einem Interview gesagt, bei dem ich anwesend war. Er hat sehr harte Worten verwendet, aber ich denke, wir müssen dazu beitragen, dass er seine Ansichten irgendwie ändert. Wir müssen ihm die Möglichkeit geben, sich eine neue Meinung zu bilden.«
Gorodischer lässt durchblicken, dass er einen unbelasteten Start möchte. Er hofft, sagt er, dass die jüdische Gemeinde unter dem neuen Präsidenten »in diesem Land in Frieden leben kann, dass wir unser Judentum in Frieden praktizieren können und dass wir unsere Kinder in Freiheit erziehen können«.
Für Gemeindechef Gorodischer ist aber auch klar: »Wir werden weiterhin – wie wir es immer getan haben – den Staat Israel und sein Existenzrecht verteidigen. Wir müssen hart daran arbeiten, Ausbrüche von Antisemitismus zu verhindern, das ist unsere Hauptsorge.«