Herr Molinas, seit zwei Wochen protestieren in der Türkei zahlreiche Menschen gegen die Politik von Ministerpräsident Erdogan. Wie ist die Stimmung unter den Juden im Land?
Die Proteste haben mit uns genau so viel zu tun wie mit allen anderen Menschen im Land.
Auf welcher Seite steht die jüdische Gemeinde?
Ich weiß, dass einige jüngere Gemeindemitglieder auf dem Taksim-Platz waren. Sie hatten sich den Demonstranten angeschlossen, waren aber nicht sehr aktiv. Kein Gemeindevertreter würde sich an den Protesten beteiligen, denn diese richten sich ja gegen die Regierung. Die Gemeinde hält sich in all diesen Fragen in der Regel bedeckt und mischt sich in politische Themen nicht ein. Das ist in der Türkei schon sehr lange so üblich.
Berichtet Ihre Zeitung über die Proteste?
Ja. Wir haben uns dem Thema objektiv genähert und getitelt: »Es ist Zeit für einen Dialog«. Wir empfehlen den Demonstranten und der Regierung, miteinander zu reden. Aber selbst da sind einige Medien und Blogs sehr schnell mit antisemitischen Anschuldigungen und behaupten, unsere Zeitung sei gegen die Regierung und mache sich mit den Demonstranten gemein. Doch das ist nicht der Fall. Wir sind Journalisten und schreiben über das, was passiert. Doch wir positionieren uns nicht.
Sehen Sie die Gefahr, dass die Proteste sich gegen die jüdische Gemeinde richten könnten?
Momentan nicht. Aber falls sich die Situation weiter verschärft, weiß ich nicht, wie die Menschen reagieren werden. Eben deshalb bete ich für eine friedliche Lösung.
Wer sorgt für die Sicherheit der Gemeinde?
Seit den Bombenanschlägen vor zwei Synagogen im Jahr 2003 werden unsere Einrichtungen von den örtlichen Sicherheitskräften des Staates bewacht.
Erdogan nennt die Demonstranten »Terroristen« und »Vandalen«. Was denken Sie?
Es gibt durchaus einige »Vandalen«, die sich unter die Demonstranten gemischt haben. Sie zündeten zum Beispiel Autos an, aber das waren sehr wenige. Dominiert wird die Szene von friedlichen Demonstranten.
Manche fragen im Zusammenhang mit den Protesten, ob die Türkei reif sei für die EU. Was meinen Sie?
Natürlich ist sie reif! Am Anfang wollte die Mehrheit der Türken in die EU. Doch je mehr vor allem Deutschland und Frankreich unseren Aufnahmewunsch ablehnten, desto mehr ließ bei vielen Türken das Interesse am EU-Beitritt nach. Laut neuesten Umfragen sind heute weniger als 50 Prozent der Bevölkerung dafür. Und auch die Regierung scheint allmählich das Vertrauen in Europa verloren zu haben. Aber als Jude glaubt man an Wunder. Vielleicht wird ja eines Tages auch in dieser Angelegenheit ein Wunder geschehen.
Mit dem Chefredakteur der in Istanbul erscheinenden jüdischen Zeitung »Salom« sprach Tobias Kühn.