Aus der schönen polnischen Stadt Krakau hinausfahrend, nimmt mich das Taxi an diesem frühen Donnerstagmorgen mit in Richtung Auschwitz-Birkenau. Eine Reihe hoher Bäume zieht am Autofenster vorbei. Mein Kopf fühlt sich leer und schwer zugleich an. Ich blicke in den stillen, blauen Himmel und versuche, mich innerlich auf diesen Tag einzustimmen – auf einen Tag, auf den man sich nicht vorbereiten kann.
Fest umklammere ich das kleine grüne Buch, das ich mitgenommen habe, in der Hoffnung, mich an etwas festhalten zu können. Mein Herz zieht sich seltsam eng zusammen, und ich denke an die eben gelesenen Zeilen von Lily Brett aus ihrem zeitlosen Werk Auschwitz Poems:
Nichts ergab einen Sinn / Alles war unvorhersehbar / Ein endloser Zug / Von Menschen / Wurde durch den Schornstein gejagt / Andere verbrannten / Die Erde / Und verstopften die Flüsse / Nichts ergab einen Sinn
Es ist das erste Mal, dass ich Auschwitz besuche und am Marsch der Lebenden teilnehme, einer Gedenkveranstaltung, die an diesem Tag Tausende Menschen aus der ganzen Welt zusammenbringt: Holocaust-Überlebende, aus der Hamas-Gefangenschaft befreite Geiseln und Angehörige jener, die noch immer in der Hölle von Gaza festgehalten werden.
Vor den Baracken der Gaskammern stehen Reihen junger Menschen
Ich stehe vor dem Tor mit der Aufschrift »Arbeit macht frei«. Der Platz ist überfüllt mit Menschen, viele haben sich die israelische Flagge um die Schultern gelegt. Das vertraute Weiß und Blau um mich herum gibt mir Kraft und Halt – fast so, als hätte selbst die Flagge Israels an diesem Ort die Macht, jüdischen Menschen ein Gefühl von Sicherheit und Stärke zu verleihen.
Vor den Baracken der Gaskammern stehen Reihen junger Menschen, die Hebräisch sprechen. Ein junger Mann legt seinen Arm um die Schultern eines älteren Herrn, dessen Blick sich tränengefüllt am Tor verliert. Nur in meinen Gedanken will ich ihn fragen: Welche Erinnerungen kommen zu dir, wenn du hier stehst? Welche Schrecken hast du mit eigenen Augen gesehen an diesem Platz, an dem alles Menschliche versagte?
Was sehe ich noch an diesem Ort, vor dessen Besuch ich mich so viele Jahre lang gefürchtet habe? Ein Holocaust-Überlebender, der ein zusammengerolltes Foto einer Geisel an seine Brust drückt. Er neigt den Kopf, schließt die Augen, wiegt sich leise betend vor und zurück. Als er die Augen wieder öffnet, blickt er hinauf zum Tor und schickt ein Gebet zum Himmel – ein Gebet, das nur er hört.
Womöglich hat sich kein Moment so tief in mein Gedächtnis eingebrannt wie der Blick der ehemaligen Geisel Eli Sharabi.
Dann das Wiedersehen mit Gita Koifman – einer herzensguten, kleinen Frau, mit der ich lange befreundet bin. Sie war selbst noch ein Kind, als sie ihre Mutter auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verlor. Und doch spricht sie bis heute, 80 Jahre später, mit so viel Liebe über sie, dass es mich jedes Mal von neuem rührt und schmerzt. Sie umarmt mich fest, herzlich, und sagt: »Wie schön, dich zu sehen, Sarah!« Eine Umarmung und Worte, die mir unendlich kostbar sind an diesem stillen Gedenkort des Grauens.
Vielleicht aber hat sich kein Moment so tief in mein Gedächtnis eingebrannt wie der Blick von Eli Sharabi – seine pechschwarzen Augen, als er vor einer Gaskammer steht und sagt: »Dass wir heute hier sind, ist ein Triumph des Lebens, ein Sieg des jüdischen Geistes.« Wenn er ins Mikrofon spricht, sind seine Worte klar und kraftvoll. Doch als er zur Seite tritt, verrät sein Blick das unermessliche Leid, das ihm aufgebürdet wurde.
Er überlebte 500 Tage in den Katakomben der Hamas – Tage voller Qual, Hunger und Folter, die wir uns nicht im Ansatz vorstellen können – und erfuhr erst bei seiner Freilassung, dass seine Frau, seine beiden Töchter und sein Bruder ermordet worden waren. Ein Mann kehrt zurück aus der grausamsten Geiselhaft, gefangen genommen, weil er Jude ist – und muss begreifen, dass seine Familie ausgelöscht wurde, ebenfalls, weil sie Juden waren.
Wie absurd das alles ist. So vieles, das keinen Sinn ergibt.
Machen wir uns nichts vor: Der 7. Oktober war nur ein einziger, zerstörerischer Tag. Doch in den genozidalen Absichten der Hamas, geboren aus tief verwurzeltem Antisemitismus, aus Vernichtungswahn und Hass auf das jüdische Volk, erkennen wir eine Brücke zu dem Generationentrauma, das die Schoa für jüdische Menschen bedeutet.
Neben Eli Sharabi stehen die Großeltern von Bar Kupershtein. Sie haben den Holocaust überlebt, sind in den 1970er Jahren nach Israel emigriert. Nun stehen sie hier, an dem Ort, an dem einst versucht wurde, vom jüdischen Volk nichts als Asche und Rauch übrig zu lassen. Hier bitten sie, flehen sie: Lasst unseren geliebten Enkel frei. Wie absurd das alles ist. So viel Schmerz. So vieles, das keinen Sinn ergibt. All das sollte nicht sein. Und niemals wieder.
»Genug!«, möchte man schreien – gegen die Steinmauern, die Zeugen waren, aber nichts taten. Doch was sollten diese leblosen Steine tun, wo Menschen versagten? Diese Mauern, die sahen, wie hunderttausende jüdische Menschen unter hervortretendem Gas mit weit aufgerissenen Mündern vor Schmerz zusammensackten. Diese stillen Mauern, die sahen, wie bis auf Knochen abgemagerte Körper nackt aufeinander gestapelt wurden und verbrannten. Und dieser Himmel – derselbe Himmel – sog den Geruch von einer Million verbrannter Toten in sich auf.
Vielleicht wird der Schmerz nicht leichter, wenn er von einer ganzen Nation getragen wird, aber er wird überlebbar.
Lily Brett schreibt in einem Gedicht an ihre Mutter:
Hast einen Abschluss gemacht / in beflissenem Gehabe / an dieser Universität des Grauens / wo du / in fünf Jahren Studium / all deine Liebsten verlorst / erst jetzt, vierzig Jahre später / kannst du betroffen sein / kannst du dich sorgen / kannst du ängstlich sein / kannst du brüllen / kannst du schreien / kannst Zuneigung zeigen und Mitgefühl / und ich kann erkennen / dass du mich liebst / Mutter.
Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen? Vielleicht wird der Schmerz nicht leichter, wenn er von einer ganzen Nation getragen wird, aber er wird überlebbar. Ist das der Grund, warum das jüdische Volk seit Anbeginn der Zeit durch alle Herausforderungen, Traumata und den Vernichtungswahn anderer hindurchgegangen ist – stark, widerstandsfähig, fähig weiterzuleben, wo andere vielleicht unter der Last des unvorstellbaren Leids zerbrochen wären? Weil der Schmerz von allen Seelen auf allen Schultern gemeinsam getragen wurde? Ist es das?
Es ergibt keinen Sinn, wenn ich in die Gesichter derer blicke, die heute hier sind: Überlebende der Schoa. Menschen wie Agam Berger, Keith Siegel und Eli Sharabi, die in den Tunneln von Gaza Dinge erlebt und erlitten haben, die sich nie mehr aus ihrem Innersten werden lösen lassen.
Und doch – ihr seid da. Ihr geht mit erhobenem Kopf vorbei an den Baracken, in denen Menschen vor Hunger gekrümmt zu Boden sanken, in denen Kinder – unschuldige Seelen – ihr letztes Atmen hauchten. Vorbei an den Gleisen hin zu den Toren von Birkenau, die einst fast 960.000 Jüdinnen und Juden in den sicheren Tod führten.
Wir gehen mit einer Kraft, die von einem anderen Ort kommt.
»Genug!«, möchte ich schreien. Aber um mich herum sind keine Gesichter, verzerrt vor Qual oder Apathie. Nicht einmal jene, deren Herzen erfüllt sind von unendlicher, banger Sorge um ihre Liebsten in Gaza, lassen sich fallen. Sie alle gehen – Schritt für Schritt, Seite an Seite. Mit Überlebenden. Mit Jungen und Alten. Mit Tausenden, die gekommen sind, um Solidarität und Anteilnahme zu zeigen.
Wir gehen nicht allein. Und wir gehen mit einer Kraft, die von einem anderen Ort kommt. Einem Ort, an den viele hier glauben. Und selbst jene, die nicht glauben, spüren sie: Diese Kraft, die tief in einem Volk ruht, das alles überstehen konnte – weil es alles schon überstanden hat.
Und so hören wir, mitten in den Reihen Tausender auf der 3,5 Kilometer langen Strecke zwischen den beiden Vernichtungslagern von Auschwitz I bis Auschwitz-Birkenau II, immer wieder aus vollen, starken Kehlen: »Am Israel Chai!« Es hallt durch diesen polnischen Ort: Das Volk Israel lebt – zum Trotz all jener, die dachten, sie könnten es vernichten.
Am Israel Chai. Drei Worte wie ein Gebet, wie ein Mantra, wie ein Anker. Ein Versprechen und eine Verpflichtung an alle Generationen, die waren und sein werden: Am Israel Chai.
Und dann stimmen wir alle gemeinsam an, inmitten von Birkenau: die Hatikva.
Als wir zu Fuß durch die Tore von Birkenau gehen, beginnt plötzlich ein starker Regen – so heftig, wie ich ihn selten erlebt habe. Es ist kein Regen, es ist ein Sturm, der über uns hereinbricht. Der graue Himmel fühlt sich nicht schwer oder drückend an, sondern befreiend. Und da kommen sie endlich – die Tränen, die nicht kommen wollten. Die Gefühle, die blockiert waren. Hier weine ich – und lache. Ich blicke voller Liebe auf die Menschen um mich herum, während sich unsere Schuhe mit Wasser füllen und die königsblauen Regenjacken, die wir vom »Marsch der Lebenden« bekommen haben, die Reihen in ein leuchtendes Blau tauchen.
Zwischen den Blitzen am Himmel und den Strahlen der Sonne, die sich durch die Wolkendecke kämpfen, sehen wir eine große Bühne vor uns: Dort spielt Agam Berger auf einer 130 Jahre alten Violine, deren Besitzer im Holocaust ermordet wurde. Sie wird begleitet von Daniel Weiss, einem Überlebenden aus dem Kibbutz Be’eri, der am 7. Oktober seine beiden Eltern verloren hat. Daraufhin betreten Shai Abramson, ein Kantor der israelischen Armee, und die Holocaust-Überlebende Sarah Weinstein gemeinsam die Bühne, und sie singen: »Oyfn Pripetshik.« Der Sturm peitscht uns ins Gesicht.
Und dann stimmen wir alle gemeinsam an, inmitten von Birkenau: die Hatikva.
Denn es gibt nicht nur unvorstellbares Grauen. Es gibt auch unvorstellbare Resilienz. Unvorstellbare Hoffnung. Unvorstellbaren Lebenswillen. Unvorstellbar – weil nicht in Worte zu fassen, wenn man es nicht selbst gespürt hat, an diesem paradoxen Ort, wo Tod und Leben, Schmerz und Zuversicht, die dunkelste Seite der Menschheitsgeschichte und die hellste Hoffnung auf Leben sich die Hand reichen – vielleicht wie an keinem anderen Ort der Welt.
In der Hatikva heißt es: »Solang noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren …«