Ungarn

Willkommen in Szarvas!

»110 Prozent Spaß« lautet das Motto des jüdischen Jugendcamps im beschaulichen Szarvas, einem Städtchen gut 170 Kilometer südöstlich von Budapest. Und das scheint angesichts der vielen fröhlichen Gesichter und der ausgelassenen Betriebsamkeit nicht untertrieben zu sein. Jeweils zwölf Tage haben die Camper hier verbracht, die vor allem aus Osteuropa, aber auch aus anderen Ländern wie Israel oder der Türkei kommen.

»Begonnen hat alles 1990, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs«, erzählt Zsuzsa Fritz, Beraterin für Führung und Bildung, mit leuchtenden Augen. Sie ist von Anfang an dabei. »Es gab das Bedürfnis, das jüdische Bewusstsein von jungen Menschen wiederzubeleben, das durch den Holocaust und den Kommunismus verloren gegangen war. Die Sommerlager waren immer sehr erfolgreich, vor allem in den USA, um die jüdische Identität aufzubauen, zu stärken und zu feiern«, sagt sie.  Das Jewish Distribution Committee (Joint) und die Lauder Foundation nahmen sich der Sache an, und auch die Politik hat unterstützt. Schließlich wurde ein verwahrloster Campingplatz in Szarvas entdeckt, der nur darauf warten schien, in ein Ferienparadies verwandelt zu werden. Als erstes seien die Mehrzweckhalle und das Schwimmbad gebaut worden. »Ansonsten sah es noch eher nach Camping aus, mit Zelten und Wohnwagen«, schildert Fritz die Anfänge.

Im wahrscheinlich größten jüdischen Jugendcamp Europas verbringen heute rund 400 Teilnehmer im Alter von 6 bis 18 Jahren zu sechst oder acht in komfortablen Bungalows mit Bad, Küchenzeile und Klimaanlage ihre Ferien. Das Leben spielt sich natürlich in den Sportanlagen, auf Spielplätzen und den mit modernster Technik ausgestatteten Gemeinschaftsräumen ab. Eine Synagoge und eine kleine Bibliothek stehen ebenfalls zur Verfügung.

Mode Ani und das Schma

Die Aktivitäten sind vielfältig. Der Tag beginnt mit dem Mifkad, bei dem sich alle auf dem zentralen Platz versammeln, sich in allen Sprachen einen guten Morgen wünschen, eine kleine spielerische Einführung in das Thema des Tages erhalten und gemeinsam die Gebete Mode Ani (Dank für das Aufwachen am neuen Tag) und das Schma (das Glaubensbekenntnis) singen. Nach dem Frühstück geht es los mit Sport, jüdischer Bildung, Kunst, Gärtnern, Bibliodrama und vielem mehr.

Dabei geht es nicht ausschließlich um jüdische Kultur. Die Größeren können zum Beispiel den brasilianischen Kampftanz Capoeira lernen. Mit dem eigens aus Israel eingeflogenen Tanzlehrer Yaron Elfassy wird nicht nur Hora, sondern zum Beispiel auch Salsa geübt. Wichtig seien moderne Erziehungsmethoden, wie die »vier K«, heißt es: Kommunikation, kritisches Denken, Kooperation und Kreativität. Die Teilnehmer seien von säkular bis modern orthodox und es werde vorab nicht geprüft, ob die Teilnehmer aus halachischer Sicht jüdisch seien. »Religion ist wichtig, aber nicht zentral«, betont Joint-Mitarbeiterin Edina Wéber. »Wir sehen uns viel mehr als Vermittler jüdischer Traditionen und freuen uns, wenn diese in die Familie weitergegeben werden.«

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Die Zwangspause durch die Coronapandemie wurde genutzt, um das Camp zu renovieren und zu modernisieren. Die Bungalows wurden beheizbar gemacht und können nun auch in der kalten Jahreszeit genutzt werden. Allerdings kommen dann keine Schüler, sondern Familien mit Kleinkindern. Im Herbst wird ein Seniorencamp angeboten, und auch Menschen mit Behinderungen können sich hier wohlfühlen.

Ruhig wird es nie

Beim Mittagessen sind die Unterhaltungen von 400 frohgestimmten Campern ohrenbetäubend! Noch schriller wird es, als die Mitglieder einer Gruppe sich spontan auf ihre Stühle stellen und ihren Schlachtruf vorzubringen. Natürlich lassen die Antworten nicht lange auf sich warten! Auch wenn jemand Geburtstag hat, wird das im Speisesaal gebührend gefeiert, und die Kinder verschiedener Nationalitäten tragen ihre heimischen Geburtstagslieder vor. »Mucksmäuschenstill wird es nur beim ersten Mittagstisch eines jeden Turnus«, berichtet Wéber mit ernster Miene. Denn es werde auf die in der Ecke stehende »Leere Tafel«, einen gedeckten Tisch, aufmerksam gemacht, der so lange dort stehen soll, bis alle Geiseln der Hamas befreit worden sind. »Das ist immer ein besonderer Moment, der sehr emotional ist, und es dauert lange Minuten, bis das laute Geplauder wieder losgeht«, fährt sie fort.

Der Nahostkonflikt und der Ukrainekrieg haben auch die Fröhlichkeit von Szarvas eingeholt. »Die Israelis sind verhaltensauffälliger als früher. Und obwohl eine Psychologin das Camp betreut, haben die Ukrainer ihre eigene mitgebracht, weil sie ihre Probleme besser versteht«,sagt Zsuzsa Fritz. Für die ukrainischen Gäste grenzt es an ein kleines Wunder, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht in ihre Bungalows müssen, denn in der Heimat sind sie Ausgangssperren gewohnt. Am 20. August, dem ungarischen Nationalfeiertag, findet auch ein Feuerwerk statt, wie in den meisten Städten in der Ukraine. Die israelischen und ukrainischen Gruppen wurden im Vorfeld informiert, um Panik zu vermeiden. Russische Kinder dürfen unter anderem wegen der EU-Sanktionen nicht am Sommerlager teilnehmen.

Stärkung durch Gemeinsamkeit

Die Madrichim und die Leitung sind natürlich jüdisch, aber einige Sportlehrer kommen aus der Umgebung. Auch Techniker, Reinigungskräfte oder das Küchenpersonal seien nichtjüdische Angestellte aus der Gegend. Edina Wéber schmunzelt: »Letztere kennen sich mit der Kaschrut besser aus als manche Juden!«

Miriam aus Berlin ist nicht zum ersten Mal dabei. Jüdischsein sei ein großer Teil ihrer Identität, sagt sie, und es sei ihr wichtig, Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen. »Mein jüdisches Bewusstsein wurde hier gestärkt«, antwortet sie auf die Frage, was sie von der Machane in Szarvas mitnehme. »Ich fühle mich sicher mit dem Wissen, dass es da draußen Leute gibt wie mich, die dieselben Sachen durchleben, dieselben Erfahrungen haben und trotzdem stark bleiben in einer nicht einfachen Zeit«, sagt sie.

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