9. November

William Coopers Vermächtnis

Viel Hoffnung hatte William Cooper nicht, als er sich am 6. Dezember 1938 auf den elf Kilometer langen Weg zum deutschen Konsulat in Melbourne machte, in der Tasche einen Protestbrief an Adolf Hitler, unterzeichnet von Aboriginals wie ihm.

Dass seine Verurteilung der Pogromnacht und der brutalen Gewalt gegen Juden wahrscheinlich ungehört verhallen würde, dürfte William Cooper klar gewesen sein. Dennoch wollte er nicht schweigen zu brennenden Synagogen, zerstörten jüdischen Geschäften, entrechteten und verfolgten Menschen – Schreckensnachrichten, von denen er im fernen Australien las, am anderen Ende der Welt.

Aus Erfahrung wusste Cooper, der damals schon 77 Jahre alt war, wie es sich anfühlte, diskriminiert und ausgegrenzt zu werden. Von frühester Kindheit an hatte der Angehörige des Yorta-Yorta-Volks, eines von geschätzt mehreren Hundert Aboriginal-Völkern, am eigenen Leib erfahren, was es hieß, wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden – ohne Bürgerrechte, Bildungschancen, gerechten Lohn, erniedrigt und brutal geschlagen.

MURRAY RIVER So musste er etwa als Kind mitansehen, wie in seinem Heimatort am Murray River, einem für Aboriginals heiligen Ort, weiße Australier »Jagd auf Schwarze« machten. Wie viele »first Australians«, die mit dem Eintreffen der englischen Siedler 1788 auf dem Kontinent von ihrem Land vertrieben, umgebracht oder in Reservate gezwängt worden waren, wurde auch die Familie des damals Neunjährigen gewaltsam auseinandergerissen.

Schon früh entschied sich Cooper daher, gegen das Unrecht, das ihm und seinem Volk geschah, zu kämpfen. Schulbildung besaß er nur bis zur 7. Klasse, arbeitete als Viehhirte und Kutscher. Alles, was er wusste, brachte er sich selbst bei, bildete sich weiter, las, war gut informiert. Auch über die politische Entwicklung in Deutschland.

So erzählt es sein Enkel, Alfred »Boydie« Turner. Wenn jemand es weiß, dann er. Denn Turner, den alle nur »Uncle Boydie« nennen – wobei »Onkel« in der Kultur der australischen Aboriginal-Völker eine respektvolle Anrede für Ältere ist –, wuchs bei seinen Großeltern auf.

Der 92-Jährige lebt heute in Shepparton, zwei Autostunden nördlich von Melbourne. Während des coronabedingten Lockdowns war er vier Monate lang nur per Telefon mit der Welt verbunden, Besuche waren zu riskant.

ZEITZEUGE Bis kurz vor der Corona-Krise sah sein Alltag ganz anders aus: Er war viel unterwegs, reiste im Auftrag der »William Cooper’s Legacy«-Stiftung durch Australien und die Welt – unter anderem nach Deutschland und Israel –, führte Zeitzeugengespräche mit australischen Schülern. Boydie hofft, diese wichtige Arbeit nun, da seit Tagen keine Neuinfektion gemeldet wurde, wieder aufnehmen zu können, um weiter Zeugnis abzulegen von der Zivilcourage seines Großvaters.

Ein australisches »Rassegesetz« regelte bis 1967, wer »Aborigine« oder »Mischling« war.

Schon 1935 hatte William Cooper die Australian Aborigines’ League (AAL) gegründet, die erste organisierte politische Vertretung der Aboriginals. Als deren Vorsitzender traf er Parlamentsabgeordnete, verfasste Berichte, schrieb Protestbriefe – darunter auch jenen an Adolf Hitler.

Nicht weit von Boydies Haus in Shepparton steht heute eine Bronzestatue von William Cooper, in der Hand hält dieser einen Brief – jenen Protestbrief, der mit den Worten begann: »Wir fordern, dass der grausamen Verfolgung des jüdischen Volkes durch die nationalsozialistische Regierung in Deutschland ein Ende gesetzt wird.«

PROTESTNOTE »Der Brief wanderte wahrscheinlich sofort in den Papierkorb«, vermutet Boydie. Denn als William Cooper und seine Mitstreiter am Konsulat ankamen, wurde ihnen der Zutritt verwehrt, die Tür blieb verschlossen. Statt des Generalkonsuls nahm ein Wachmann die Protestnote entgegen.

An jenen 6. Dezember 1938 und die Protestaktion seines Großvaters erinnert sich Boydie genau, obwohl er damals erst neun Jahre alt war. Was hat William Cooper damals dazu bewogen? »Mein Großvater hatte ein tief ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, war ein Verfechter der Menschenrechte – nicht nur in eigener Sache, sondern gespeist aus seinen eigenen Erfahrungen als Angehöriger einer diskriminierten Bevölkerungsgruppe«, ist Boydie überzeugt. »Als er las, was in Deutschland geschah, war er sich sicher: ›Wenn niemand Hitler entgegentritt, wird es Völkermord geben.‹«

»Als er las, was in Deutschland geschah, war er sich sicher: ›Wenn niemand Hitler entgegentritt, wird es Völkermord geben.‹«

Alfred »Boydie« Turner

Als offizielle Reaktionen nach dem 9. November ausblieben, auch seitens der australischen Regierung, berief Cooper eine Versammlung des gesamten AAL-Leitungskomitees ein. An Ort und Stelle beschlossen die Aboriginal-Aktivisten, einen Protestbrief zu schreiben und dem deutschen Konsul zu überbringen.

Und das zu einem Zeitpunkt, als zivilgesellschaftliche Proteste wie diese die Ausnahme blieben und das Hauptaugenmerk der australischen Regierung, insbesondere nach der Konferenz von Évian im Juli 1938, dem bevorstehenden Ansturm jüdischer Flüchtlinge und dessen Abwehr galt.

SORRY DAY Cooper hatte sich gut informiert. Er wusste, dass die Nazis Juden und andere Minderheiten in Konzentrationslager schickten, auch die Nürnberger Gesetze waren ihm bekannt. Parallelen zum australischen Rechtssystem lagen für ihn auf der Hand: Es gab auch ein australisches »Rassegesetz«, das regelte, wer »Aborigine« oder »Mischling« war.

»Aborigines« wurden in Reservate verbannt, waren von rationierten Essenszuteilungen abhängig. Die »half-caste children«, Kinder oder Enkel von Aboriginals und Weißen, hingegen sollten assimiliert und als Arbeitskräfte »der Gesellschaft zugeführt« werden.

Die rechtliche Grundlage dafür bildeten in den verschiedenen Bundesstaaten erlassene »Aboriginal Protection Acts« – aufgrund dieser vermeintlichen »Schutzgesetze« wurden Familien zwischen 1909 und 1969 unter Zwang auseinandergerissen, Kinder von ihren Eltern getrennt. Studien zufolge waren davon zehn bis 30 Prozent aller Aboriginal-Kinder betroffen.

Erst spät begann man in Australien, das Leid der »Stolen Generations«, der »Gestohlenen Generationen«, aufzuarbeiten.

Erst spät begann man in Australien, das Leid der »Stolen Generations«, der »Gestohlenen Generationen«, aufzuarbeiten und unter anderem mit Gedenktagen wie dem »National Sorry Day«, dem »Nationalen Tag der Entschuldigung«, und dem »Reconciliation Day«, dem Versöhnungstag, anzuerkennen.

ENGAGEMENT Zwar habe sich seitdem viel verändert in der australischen Gesellschaft, sagt Uncle Boydie: 1967 erhielten Aboriginals Bürgerrechte, heute würden viele von ihnen an Universitäten studieren, während früher die Schulbildung oft mit der 3. Klasse endete.

Zudem wurden – wenngleich spät – mit der »Mabo decision« 1992 und dem daraus folgenden »Native Title Act« 1993 endlich die Rechte der Aboriginal- und der Torres-Strait-Islander-Völker auf Land anerkannt und damit auch auf das Ausüben der eigenen Kultur und Traditionen.

Boydie wünscht sich, dass noch mehr Menschen vom Mut seines Großvaters erfahren – weltweit, vor allem aber in Australien selbst. Denn Diskriminierung, historisches Unwissen und Ignoranz gegenüber Minderheiten seien auch heute noch verbreitet – nicht nur in Australien.
Dass heute Straßen in Melbourne und Canberra sowie das Justizzentrum in Melbournes Gerichtsviertel nach William Cooper benannt sind, ist in erster Linie dem Engagement des Enkels zu verdanken.

Der feste Platz, den William Cooper in den Jüdischen Museen von Melbourne und Sydney hat, geht auf Uncle Boydies Initiative zurück.

Auch der feste Platz, den William Cooper in den Jüdischen Museen von Melbourne und Sydney sowie im Holocaust Centre Melbourne hat, geht auf Uncle Boydies Initiative zurück. 2010 honorierte der Exekutivrat der australischen Juden »mit Dankbarkeit und Respekt« Coopers Petition »zu einem Zeitpunkt, als Aboriginals selbst Bürgerstatus und andere grundlegende Rechte verwehrt wurden«.

PETITION An die ersten politischen Aktionen seines Großvaters in den 30er-Jahren erinnert sich Boydie genau. »Mein Großvater genoss schon immer großen Respekt bei den Menschen in seiner Gemeinschaft. Er war einer der wenigen mit ein bisschen Bildung«, erinnert sich Boydie. »Mit Mitte 20 war er in der Lage, einen ordentlichen Brief zu schreiben, und so kam er dazu, sich für die Rechte der Aborigines einzusetzen.«

Auf einer Seifenkiste stehend habe sein Großvater zu Mitstreitern gesprochen. Jahrelang habe er Unterschriften gesammelt für eine Petition an den britischen König George VI. Darin forderte er neben der rechtlichen Gleichstellung von Aboriginals auch deren Vertretung im Parlament und das Recht auf Grund und Boden.

Alf »Boydie« Turner wollte das vollenden, was seinem Großvater einst verwehrt worden war.

Das damalige australische Kabinett unter Joseph Lyons blockierte jedoch die Weitergabe an den König. 80 Jahre später setzte Boydie alles daran, Coopers Petition über Umwege an dessen Nachfolgerin Königin Elizabeth II. zu übergeben – diesmal mit Erfolg.

ERFOLG Auf einen weiteren Erfolg ist Boydie ebenso stolz: 2017 flog er nach Berlin, um William Coopers Protestnote 79 Jahre später in der australischen Botschaft an Felix Klein zu übergeben, damals noch Sonderbeauftragter für Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen im Auswärtigen Amt. Alf »Boydie« Turner wollte das vollenden, was seinem Großvater einst verwehrt worden war.

»Menschen wie William Cooper weisen uns für unsere heutige Erinnerungskultur und für unser politisches Handeln den Weg«, sagt Felix Klein. Die Begegnung mit Boydie habe ihn sehr berührt. »Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er die Erinnerung an seinen heldenhaften Großvater und seine mutigen Mitstreiter wachhält.«

Von der Reise nach Berlin 2017 schwärmt Boydie noch heute. Der Empfang in der Australischen Botschaft, die warmen Worte von Felix Klein, die Gedenkveranstaltung zum 9. November im Jüdischen Gemeindehaus, das Gebet El Male Rachamim des Kantors, die vielen Kränze – all das hat den 92-jährigen Australier nachhaltig beeindruckt. Denn trotz aller Veränderungen in der australischen Gesellschaft – von echter Aufarbeitung sei sie weit entfernt.

»Die meisten Australier wissen nicht einmal, dass diese Gedenktage überhaupt existieren:«

Abe Schwarz

»Erinnerungskultur? Davon können wir Aboriginals in Australien nur träumen«, sagt Boydie nicht ohne Bitterkeit. Die beiden nationalen Gedenktage seien »eher symbolischer Natur«. Bei vielen Australiern herrsche die Haltung vor: »Wann kommen die ›bloody Abos‹ endlich darüber hinweg?« Es müsse noch viel getan werden, meint Boydie.

Meist seien es Aboriginals selbst oder deren Unterstützer, die eine Aufarbeitung von jahrzehntelanger systematischer und staatlich sanktionierter Diskriminierungspolitik und Rassismus anmahnen.

NAMENSLESUNG Zu diesen Unterstützern zählen auch viele Juden. Einer von ihnen ist Abe Schwarz, Boydies Freund, Nachbar und Stiftungssprecher. »Die meisten Australier wissen nicht einmal, dass diese Gedenktage überhaupt existieren«, sagt Abe Schwarz. Wirkliches Verständnis sei nicht sehr tief in der Gesellschaft verankert, weshalb auch die »Black Lives Matter«-Proteste in Australien eher verhalten verliefen, berichtet er.

Schwarz hat Boydie auf seinen Reisen begleitet – auch 2010 nach Jerusalem, wo William Cooper in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« geehrt wurde und in seinem Gedenken 65 Bäume im Yatir-Wald am Rande der Wüste Negev gepflanzt wurden.

2010 ehrte Yad Vashem Cooper als Gerechten unter den Völkern.

Auch für ihn, Sohn jüdischer Einwanderer, ist die Berlinreise 2017 unvergessen. »Nach der Gedenkveranstaltung im Gemeindehaus streiften wir durch die Straßen der Stadt, um Stolpersteine zu finden – ich musste nicht lange suchen. Danach kehrte ich in die Fasanenstraße zurück, wo die Namenslesung gerade bei den letzten Buchstaben des Alphabets angekommen war«, erinnert sich Abe Schwarz.

»Ich gesellte mich dazu – und las: Schneider, Schindler, Schwarz. Es war einer der ergreifendsten Momente meines Lebens. Uncle Boydie hat das verstanden – er stand dort mit mir in dieser eiskalten Novembernacht und hörte mir zu.« Weder bei Jom-Haschoa-Zeremonien in Israel noch in Australien habe er »ein so brillantes, aber einfaches Konzept« gesehen. »Ich wünschte, wir Australier würden diese Art der Gedenkkultur aufnehmen!«

FORSCHUNGSPROFESSUR Erst kürzlich hat Israel eine Forschungsprofessur zur Unterstützung der internationalen Holocaust-Studien eingerichtet und nach William Cooper benannt. Mit 92 Jahren hat Uncle Boydie endlich das Gefühl, seine Lebensaufgabe erfüllt zu haben: »Ich wollte den Namen William Cooper in der Welt bekannt machen, damit die Leute wissen, was er und seine Mitstreiter getan haben«, sagt er.

Gerade heute sei Zivilcourage notwendiger denn je, findet der Aboriginal-Älteste. »Wenn man Unrecht sieht oder hört, muss man handeln.« Das sei das wahre Vermächtnis seines Großvaters.

Europa

Allianz der Israelhasser

Mit antizionistischen Positionen will ein Bündnis aus muslimischen Parteien sowohl konservative als auch progressive Wähler mobilisieren

von Mark Feldon  31.10.2024

USA

Modisch und menschlich

Seit 25 Jahren betreibt Allison Buchsbaum eine Galerie für zeitgenössischen Schmuck in Santa Fe

von Alicia Rust  22.10.2024

Großbritannien

»Zionistisch und stolz«

Phil Rosenberg, der neue Chef des Board of Deputies of Jews, über den Kampf gegen Judenhass

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  20.10.2024

Südafrika

Terroristin auf dem Straßenschild?

In Johannesburg soll eine wichtige Hauptverkehrsstraße nach der Flugzeugentführerin Leila Chaled benannt werden

von Michael Thaidigsmann  16.10.2024

New York

Versteck von Anne Frank wird nachgebaut

Rekonstruktion soll zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in New York zu sehen sein

von Annette Birschel  16.10.2024

Österreich

Wenn der Rebbe keltert

Schlomo Hofmeister kauft jedes Jahr Trauben und produziert seinen eigenen koscheren Wein

von Tobias Kühn  16.10.2024

Lufthansa

Millionenstrafe wegen Diskriminierung von Juden

Die USA sanktionieren die Airline wegen des Ausschlusses von 128 jüdischen Fluggästen vom Weiterflug nach Ungarn

 16.10.2024

Indien

Kosher Mumbai

Mithilfe der »Jewish Route« soll in der indischen Metropole der reichen jüdischen Vergangenheit gedacht und eine Brücke zur Gegenwart geschlagen werden

von Iris Völlnagel  15.10.2024

Ungarn

Identitäten im Dilemma-Café

»Haver« nennt sich eine Stiftung, deren Ziel es ist, nicht-jüdischen Jugendlichen durch Spiele und moderierten Diskussionen das Judentum näherzubringen

von György Polgár  14.10.2024