Andrée Geulen ist tot. Die Brüsselerin, die während des Zweiten Weltkriegs Widerstand gegen die deutschen Besatzer leistete und dabei mithalf, mehr als 3000 jüdische Kinder und Jugendliche zu retten, verstarb im Alter von 100 Jahren. Das meldeten belgische Medien am Mittwoch.
Bereits als Jugendliche kümmerte sich die Katholikin um Kinder, die aus dem spanischen Bürgerkrieg nach Belgien geflüchtet waren. Anfang der 40er-Jahre unterrichtete Geulen als Lehrerin an der Gatti-Gamond-Schule in Brüssel. Einige der Schüler waren jüdisch und mussten gemäß den Auflagen der NS-Besatzer einen gelben Stern tragen.
schule Geulen war empört und bat die Eltern der Schüler, die Kinder ohne das Zeichen in die Schule zu schicken. Als diese das aus Angst vor Repressalien ablehnten, bat Geulen alle Schüler, während des Unterrichts bei ihr Schürzen zu tragen, um die jüdischen Kinder nicht zu stigmatisieren.
Als einige Tage später mehrere jüdische Schüler gar nicht mehr zum Unterricht erschienen und Geulen nachforschte, wurde ihr schnell klar, dass Razzien gegen Juden im Gange waren. Einer ihrer Schüler sagte ihr auf Nachfrage: »Fräulein Andrée, ich bin jüdisch und darf das niemandem verraten.«
Mit Wissen und Billigung der Schulleiterin zog die Lehrerin daraufhin in das Internat der Schule ein. Als die Gestapo dort im Mai 1943 eine nächtliche Razzia durchführte und die versteckten jüdischen Kinder mitnahm, schleuderte Geulen den NS-Männern den Satz entgegen: »Wieso führen Sie Krieg gegen jüdische Kinder?«
Es gelang ihr, unterzutauchen und andere jüdische Familien zu warnen. Die Schulleiterin, Odile Ovart, hatte weniger Glück: Sie und ihr Mann wurden verhaftet und später ermordet.
UNTERGRUND Andrée Geulen nahm Kontakt zur Untergrundorganisation »Jüdisches Verteidigungskomitee« auf und mietete sich unter dem Pseudonym Claude Fournier gemeinsam mit der aus Rumänien stammenden Jüdin Ida Sterno in einer Wohnung ein. Mit zehn weiteren Mitstreiterinnen gelang es den beiden Frauen, zahlreiche jüdische Kinder und Jugendliche unter falschem Namen in nichtjüdische Familien oder Einrichtungen zu vermitteln und so vor dem Zugriff der Nazis zu verstecken.
Schätzungen zufolge konnte die Gruppe in weniger als zwei Jahren mehr als 3000 Juden vor der Deportation in die NS-Todeslager retten. Sterno wurde 1944 von den Nazis festgenommen, deportiert und ermordet.
Geulen überlebte. Nach dem Krieg war es an ihr, die geretteten Juden wieder aufzuspüren und sie mit ihren Eltern zusammenzubringen. Viele waren zu Waisen geworden. Andrée kümmerte sich weiter um sie; viele von ihnen sahen die Retterin als eine zweite Mutter an.
EHRENBÜRGERIN Andrée Geulen heiratete den jüdischen Holocaust-Überlebenden Charles Herscovici und hatte mit ihm zwei Kinder. 1989 ehrte die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem die mutige Frau als »Gerechte unter den Völkern«. 18 Jahre später besuchte sie noch einmal Israel, aus Anlass eines Treffens der von ihr versteckten Kinder. Dort wurde ihr die Ehrenbürgerschaft des Staates Israel verliehen.
Am 6. September 2021 feierte Andrée Geulen-Herscovici ihren 100. Geburtstag, und erst vor wenigen Wochen wurde sie Ehrenbürgerin der Brüsseler Teilgemeinde Ixelles. Anlässlich der Verleihung der Würde nannte der 91-jährige Schoa-Überlebende Simon Gronowski, der ebenfalls in Ixelles lebt und als Kind aus einem Deportationszug nach Auschwitz entkommen konnte, Andrée Geulen eine »Heldin«.