Die Dame am anderen Ende der Leitung wählt ihre Worte knapp. Es rauscht, der Ton bricht immer wieder ab. Immer wieder aufs Neue wiederholt sie, bis die Puzzleteile eines zerhackten Satzes sich am anderen Ende zusammenfügen: »Evakuierung, wir arbeiten an der Evakuierung«, sagt sie.
Die Frau, die hier von Evakuierung spricht, arbeitet für die jüdische Gemeinde in Charkiw. Seit zwei Wochen ist Krieg in der Ukraine. Charkiw, eine Millionenstadt im Osten des Landes, war vom ersten Tag dieses Krieges an schwer umkämpft. Vor der Stadt stehen russische Soldaten. Erst hatte die russische Armee mehrmals versucht, Charkiw im Sturm zu nehmen – doch ohne nennenswerte Ergebnisse, aber unter großen Verlusten. Seit einer Woche liegt Charkiw unter Dauerbeschuss, und es wird alles getroffen: Wohngebäude, Schulen, Verwaltungseinrichtungen, Versorgungsleitungen.
ZUFLUCHT Es sei die Hölle, sagt eine junge Frau, die nach wie vor in ihrem Appartement im obersten Stockwerk eines Wohnblocks wohnt. Einen anderen Zufluchtsort hat sie nicht – und die Metro mit ihren Schächten, die in diesen Tagen als Bunker dienen, die ist weit.
In dieser Hölle hat die örtliche jüdische Gemeinde ihre Pforten geöffnet – soweit das eben geht. Im Keller der Hauptsynagoge haben Dutzende Menschen Zuflucht gefunden. Nur noch einmal täglich wird gebetet. Mit »Psalmen gegen die Raketen«, so beschreibt jemand die Stimmung.
Im Keller wurde ein Notschlaflager eingerichtet. Zugleich wird versucht, ältere Personen, die nicht in die Synagoge kommen können, mit Essen zu versorgen – ein Unterfangen, das Tag für Tag gefährlicher wird. Das religiöse Leben beschränkt sich in der Choral-Synagoge, dem größten jüdischen Bethaus der Ukraine, mittlerweile auf täglich ein Gebet – eines, damit sich ein Wunder der Geschichte wiederholt. Denn den Zweiten Weltkrieg hat die Synagoge unbeschadet überstanden.
Aus der Stadt zu kommen, ist inzwischen kaum mehr möglich. Die Arbeit an der Evakuierung erweist sich als langwierig, Charkiw ist de facto eingeschlossen.
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