Vor Kurzem wurden in Ungarn die Ergebnisse einer soziologischen Studie über die jüdischen Gemeinden veröffentlicht. Die Untersuchung basiert auf nahezu 2000 Interviews, die in den Jahren 2016 und 2017 von einem Forschungsteam unter der Leitung des Soziologen András Kovács geführt wurden.
Neben einigen Befunden, die zu erwarten waren, wie etwa der überwiegenden Ablehnung von Autoritarismus und gesellschaftlichem Konservatismus, gibt es auch einige Überraschungen. So soll der Anteil derjenigen, die die jüdischen Feiertage begehen, seit der letzten Erhebung 1999 auf rund 30 Prozent gestiegen sein – und das, obwohl der Religiositätsgrad (je nach Definition nur fünf bis zehn Prozent) insgesamt relativ gering geblieben ist.
Erfreulich ist auch, dass »nur noch« 48 Prozent der Befragten persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht haben. Vor 18 Jahren waren es sage und schreibe 75 Prozent.
Diskurs Nichtsdestoweniger ist der allgemeine Eindruck, dass man in einer antisemitischen Gesellschaft lebt, weiter verbreitet als zuvor. Soziologe Kovács erklärt dieses Paradox durch die verstärkte Präsenz antisemitischer Diskurse und Motive in der Öffentlichkeit.
An der repräsentativen Studie nahmen volljährige Ungarn teil, die sich selbst als jüdisch bezeichnen oder eigenen Angaben zufolge mindestens einen jüdischen Großelternteil haben. Die Forscher gehen davon aus, dass die auf diese Art definierte Gruppe zwischen 150.000 und 200.000 Personen zählt und damit ungefähr fünf Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes ausmacht. Diese Zahl bestätigt die weit verbreitete Annahme, dass Ungarn die im Verhältnis größte jüdische Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa hat, und sie zeigt, dass trotz der massiven Auswanderung der vergangenen Jahre eine kritische Masse im Land geblieben ist.
Die relativ weit gefasste Definition der untersuchten Gruppe erklären die Herausgeber zum einen mit den langfristigen Säkularisierungs- und Assimilierungstrends, zum anderen aber mit der Tatsache, dass der so definierte Personenkreis nichtsdestoweniger bestimmte Charakteristika behält, die ihn vom Rest der Bevölkerung klar unterscheiden.
So verfügen erstaunliche 78 Prozent dieser Gruppe über einen Hochschulabschluss, das ist mehr als doppelt so viel wie in der Gesamtbevölkerung.
Regel Und selbst im Vergleich zum durchschnittlichen ungarischen Hochschulabsolventen vertritt die überwiegende Mehrheit dieser im weiten Sinne als jüdisch definierten Bevölkerungsgruppe Meinungen, die in der Regel mit einer liberalen Einstellung verbunden sind: So sprechen sich nur etwa 14 Prozent für eine restriktive Flüchtlingspolitik aus, und sehr wenige befürworten die Einführung der Todesstrafe oder eine etwaige Verschärfung der Drogenpolitik.
Nur noch knapp die Hälfte der untersuchten Gruppe hat einen homogenen Familienhintergrund, also vier jüdische Großeltern. Die Untergruppe der 18- bis 24-Jährigen ist am heterogensten: 73 Prozent dieser Personen haben höchstens zwei jüdische Großeltern. Die ältere Generation schreibt sich selbst etwas häufiger eine stärker jüdische als ungarische Identität zu, während sich die jungen Menschen aus »gemischten« Familien zunehmend als europäisch definieren.
Mit einer konkreten jüdischen Gemeinde oder Organisation identifizieren sich nur zehn Prozent der Befragten. In der jüngeren Generation sind es deutlich weniger – ein Ergebnis, das den jüdischen Dachverband Mazsihisz alarmieren wird. Das Kultur-, Bildungs- und Sozialangebot der Gemeinden scheint vielen jungen Menschen so gut wie unbekannt zu sein.
Warum die organisierten Formen jüdischen Lebens für junge Juden weniger relevant geworden sind, zeigen die Antworten auf die Frage, ob sich die Gemeinden auch allgemein gesellschaftlichen, nicht unbedingt jüdischen Themen öffnen sollen. Zwei Drittel der Befragten wünschen sich eine solche Hinwendung.