In den vergangenen Wochen haben Kiews Synagogen und jüdische Gemeindezentren viel mehr Menschen gesehen als je zuvor. Selbst während der Hohen Feiertage kamen nicht so viele Menschen wie jetzt. Die religiöse Funktion der jüdischen Gemeinde ist in den Hintergrund getreten und die soziale in den Vordergrund gerückt.
In Städten, die nicht unter Beschuss sind, haben sich Gemeindeeinrichtungen zu multifunktionalen humanitären Zentren entwickelt. Hier treffen Lebensmittel, Medikamente und andere Waren ein, die Vertreter jüdischer Gemeinden aus dem europäischen Ausland gekauft haben und hierherbringen. Hilfsgüter werden entladen, sortiert und dorthin weitertransportiert, wo sie gebraucht werden. Dies sind vor allem Regionen in der Nähe aktueller Kampfhandlungen oder Gegenden, in denen in letzter Zeit Kämpfe stattgefunden haben.
NACHBARSCHAFT Humanitäre Hilfe wird jedoch auch in der Nachbarschaft geleistet. Viele einsame, bedürftige ältere oder kranke Menschen brauchen Unterstützung, weil sie ohne angemessene staatliche Versorgung oder Hilfe von Verwandten und Freunden zurückgelassen wurden.
Die Jüngeren sind an die Front gegangen, ins Ausland oder in sicherere Regionen im Westen der Ukraine. Dort erhalten Bedürftige gerade in jüdischen Gemeindezentren medizinische Versorgung, psychologische Hilfe, Lebensmittel und oft auch eine Unterkunft. Viele haben keine Wechselkleidung dabei und mitunter nicht einmal Ausweispapiere. Sie sind mit dem geflohen, was sie auf dem Leibe trugen.
Die jüdische Gemeinde hat viele Menschen gerettet aus Städten
unter Beschuss.
Vielen Binnenflüchtlingen, vor allem alleinstehenden Älteren und Menschen mit Behinderung, musste bei der Evakuierung geholfen werden. Gemeindeinstitutionen, vor allem der Waad der Ukraine, die jüdische Dachorganisation des Landes, haben besondere Anstrengungen unternommen, um die Logistik für die Evakuierung der Kampfgebiete zu organisieren. Die jüdische Gemeinde hat viele Menschen der Zivilbevölkerung aus Städten unter Beschuss herausgeholt, zum Beispiel aus Rubischne in der Region Luhansk.
Jüdische Einrichtungen helfen allen Bedürftigen unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft und Religionszugehörigkeit.
SOLIDARITÄT Die ukrainische Gesellschaft reagiert auf den enormen Druck von außen mit beispielloser Solidarität. Das ganze Land hat sich in einen riesigen Ameisenhaufen verwandelt, in dem ohne grundlegende Koordinierung eine Reihe von Basisinitiativen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Vermutlich sind nicht Zehn-, sondern Hunderttausende Menschen in unterschiedlichem Maße an diesen sich selbst organisierenden Aktivitäten beteiligt: der Zivilbevölkerung und jenen an der Front helfen, Geld sammeln, Waren aus dem Ausland herbeischaffen und verteilen – von Babynahrung über die Transportbox für Haustiere bis zur kugelsicheren Weste.
Inmitten all dessen erweist sich die jüdische Gemeinde als ein auffälliger und äußerst effektiver Akteur. Ihr Erfolg in der humanitären Arbeit beruht unter anderem auf der bereits vorhandenen sozialen Infrastruktur und den langjährigen Erfahrungen.
Die jüdische Gemeinde der Ukraine ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gealtert. Viele Jüngere sind nach Israel gegangen, in die Vereinigten Staaten oder nach Deutschland, während einsame alte Menschen in der Obhut gemeindlicher Einrichtungen bleiben.
netzwerk Den Gemeindeinstitutionen gelang es nach der kommunistischen Zeit mit dem Aufkommen von Strukturen wie dem JOINT, dem American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), ein groß angelegtes Netzwerk aufzubauen. Es erweist sich als hervorragende Basis, um auf die Herausforderungen des Krieges zu reagieren.
Dass die jüdische Gemeinde in der humanitären Arbeit unter Kriegsbedingungen derzeit so erfolgreich ist, liegt auch an ihren zahlreichen Arbeitskontakten ins Ausland.
Dass die jüdische Gemeinde in der humanitären Arbeit unter Kriegsbedingungen derzeit so erfolgreich ist, liegt auch an ihren zahlreichen Arbeitskontakten ins Ausland. Die internationale jüdische Solidarität erweist sich als äußerst wirkungsvoll. Jahrzehntelange persönliche und institutionelle Beziehungen haben der jüdischen Gemeinde in der Ukraine geholfen, sowohl Lieferketten aus Europa (oder von Israel und Amerika durch Europa) als auch in die andere Richtung, die Aufnahme eines großen Flüchtlingsstroms schnell zu organisieren.
Psychologen sagen, es dauere etwas mehr als zwei Monate, bis ein Mensch eine Gewohnheit entwickelt. Ob man dieses Bild auf eine Gesellschaft übertragen kann? Es scheint, dass sich die jüdische Gemeinde in der Ukraine daran gewöhnt, im Krieg zu leben.
Der Autor ist Historiker und Journalist in Kiew. Er dokumentiert die aktuellen Kriegsverbrechen in der Ukraine.