Antwerpen, Mitte Januar. Der Abend ist schon recht fortgeschritten, als Michael Freilichs Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung ist Bart De Wever, Bürgermeister der Hafenmetropole und zugleich Parteichef der Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA). Die Sache sei dringend. Wenn Freilich zustimmt, bekommt er als Neuling bei den belgischen Parlamentswahlen im Mai den fünften Platz auf der Liste der N-VA. Bei der aktuell größten Partei des Landes bedeutet das vermutlich einen sicheren Sitz als Abgeordneter. »Das ist, was ich Ihnen anbieten kann, Michael«, sagt De Wever. »Denken Sie gut darüber nach. Sie haben 24 Stunden Zeit.«
Für Michael Freilich, 38, verheiratet und Vater von vier jungen Söhnen, wird es eine unruhige Nacht. Er geht in sich, sinniert über diesen Schritt, die Konsequenzen für sich und seine Familie. Er fühlt: Diese Sache wird sein Leben beeinflussen, vielleicht für immer. Doch tief im Innern weiß er eigentlich, dass er annehmen wird. Schließlich hat er De Wever vor nicht allzu langer Zeit selbst zu verstehen gegeben, dass er geneigt ist, in die Politik einzusteigen. Am Ende der Frist ruft er De Wever an und sagt zu.
Knalleffekt Eine Woche später präsentiert die N-VA Michael Freilich. In Belgien, das sich nach dem Sturz der Regierung Ende 2018 in einem eigenartigen Zustand irgendwo zwischen politischer Krise und Wahlkampfmodus befindet, ist es eines der Themen dieses Tages. Der bisherige Journalist, so viel steht bereits fest, wird einer der prominentesten neuen Kandidaten sein. Viele Medien nennen ihn ein »weißes Kaninchen«, als habe man Freilich wie eine große Sensation aus dem Hut gezaubert.
Wer sich in der Antwerpener Szene ein wenig auskennt, ist indes kaum überrascht von diesem Schritt. Als Chefredakteur und Galionsfigur der jüdischen Zeitschrift »Joods Actueel« machte er aus seiner Neigung zur flämisch-nationalistischen Partei wenig Hehl. Passend ist der Vergleich eher wegen des Knalleffekts, denn Freilich hat es als unverblümter, streitbarer Kommentator des politischen Geschehens zu landesweiter Bekanntheit gebracht.
Wenige Tage nach all dieser Aufregung lädt Michael Freilich zu sich nach Hause in seine Wohnung im Antwerpener Diamantenviertel ein. Seine Familie ist ausgeflogen, das Haus ruhig. Er trägt einen warmen Winterpullover, er hat sich Zeit genommen. Ein passendes Ambiente, um sich jemandem zu nähern, der nun vor dem ersten Wahlkampf seines Lebens steht und sein öffentliches Image scheinbar zu korrigieren geneigt ist. »Zu Hause bin ich der ›Good Cop‹«, verriet er unlängst der lokalen »Gazet Van Antwerpen«. »Streng zu meinen Söhnen sein, das kann ich nicht.«
Öffentlichkeit Michael Freilich ist ein waschechter Antwerpener – geboren und aufgewachsen in der Stadt an der Schelde. Ein moderner orthodoxer Jude, der Marketing in Jerusalem studiert hat und dort außerdem sein Hobby pflegen konnte: die Fotografie. Dafür hat er heute jedoch kaum noch Zeit. Noch immer schwärmt er davon, wie die Stadt im Schnee aussieht und wie es ist, sie dann mit der Kamera zu durchstreifen.
Nebenher arbeitete er in Jerusalem für das ein wenig angestaubte »Belgisch Israëlitisch Weekblad«, das sein Großvater Louis Davids 1954 ins Leben gerufen hatte.
Michael Freilich steht vor dem ersten Wahlkampf seines Lebens.
Im Gespräch mit Freilich führen viele, wenn nicht alle Wege zu dieser Zeitschrift, die quasi sein »Baby« ist. 2007 übernahm er das Blatt gemeinsam mit seiner Mutter Terry Davids. Er verpasste ihr ein neues Erscheinungsbild und benannte sie in »Joods Actueel« um. Zugleich wurde er ihr Aushängeschild. Sein Ansatz: »Wie mache ich etwas Großes aus etwas Kleinem? Du musst anders sein als der Rest, ansonsten fällst du nicht auf.«
»Joods Actueel« ist durchaus etwas Kleines. Doch dank dieser Strategie ist ihr Bekanntheitsgrad trotz einer Auflage von gerade einmal 20.000 Exemplaren recht beachtlich. Alle wichtigen Politiker Belgiens kommen in der Zeitschrift zu Wort. Freiexemplare gehen an Personen, die den gesellschaftlichen Diskurs prägen, und man sucht die Aufmerksamkeit anderer Medien. »Wie oft zitiert zum Beispiel der ›Guardian‹ die britische jüdische Presse?«, fragt er. »›Joods Actueel‹ dagegen wird regelmäßig erwähnt.«
Fußballverein Immer wieder sind da auch viele Initiativen, weshalb manche Michael Freilich auch einen Aktivisten nennen. Im Herbst 2018 führte er Prinz Laurent von Belgien, der sich nach öffentlicher Kritik mit verfolgten Juden verglich, persönlich durch das Holocaustmuseum in Mechelen. Kurz vor dem Jahreswechsel grölten Fans des belgischen Fußballmeisters FC Brügge im Stadion ein Lied über das Verbrennen von Juden. Am Tag darauf machte Freilich großformatige Kopien von Fotos, die Verbrennungsöfen in Konzentrationslagern zeigen. Er fährt nach Brügge, verliest vor dem Stadion eine Presseerklärung und überreicht einem Vertreter des Vereins die Bilder.
Auch seine Verbindung zur N-VA hat viel mit »Joods Actueel« zu tun. 2012 gewinnt die Partei, die sich in ihren Statuten zu einem unabhängigen Flandern bekennt, die Kommunalwahlen in Antwerpen und stellt mit Bart De Wever den Bürgermeister. Wie die meisten Juden war damals auch Freilich anfangs sehr skeptisch. Dass ein Teil der flämischen Separatistenbewegung einst mit den Nazis kollaborierte, belastet das Verhältnis noch immer. Und als der rechtsextreme Vlaams Belang Antwerpens Juden als Bündnispartner gegen Islamisten zu umwerben begann, zeigte Freilich klare Kante: Er recherchierte zu den Verbindungen der Partei zu der rechtsextremen Szene und veröffentlichte unter dem Titel »Die zehn Todsünden des Vlaams Belang« ein Dossier.
Mit der N-VA, einst pro-palästinensisch, liegt die Sache anders: Sie ergreift inzwischen eindeutig Partei für Israel. Seit ihrem Einzug ins Rathaus ist namentlich Bürgermeister Bart De Wever um gute Kontakte zur jüdischen Bevölkerung Antwerpens bemüht. 2015 entschuldigte er sich öffentlich für die Kollaboration der Flamen mit den Deutschen. Nicht nur bei Freilich wurde die Partei damit akzeptabel. Schon seit 2012 hat sie mit Andre Gantman einen ehemals liberalen jüdischen Politiker in ihren Reihen. Auch die Tatsache, dass sie angesichts des islamistischen Terrors jüdische Einrichtungen konsequent unter Schutz stellte, überzeugte nicht nur Freilich, sich der N-VA anzuschließen.
Kluft Strengere Migrationskontrollen sowie ein härteres Vorgehen gegen Terrorismus und Antisemitismus stehen bei Freilich ebenso ganz oben auf der Agenda wie auch der Schutz vor homophober Gewalt. »Dafür werde ich kämpfen wie ein echter flämischer Löwe!«
Die Referenz an das Symbol der flämischen Nationalbewegung kommt nicht von ungefähr. Schon sein Großvater Louis Davids hatte sich dafür eingesetzt, dass Antwerpens Juden Niederländisch sprachen. Auch die N-VA-Forderung nach einem konföderalen Staat unterstützt Freilich. Zu tief erscheint ihm die kulturelle und politische Kluft zwischen Flamen und Frankophonen, die sich auch in den jüdischen Institutionen widerspiegelt. Es gibt kaum Kontakte zwischen Vertretern der unterschiedlichen Sprachgruppen, selbst als Chefredakteur habe er »viel zu wenig« Austausch mit frankofonen jüdischen Journalisten.
Zwischen flämischen und frankofonen Juden existiert eine Kluft.
Zwischen flämischen und frankofonen Juden existiert eine Kluft. Wie aber steht er zu den Grauzonen der flämisch-nationalistischen Szene? Wo Löwenflaggen wehen, sind vielfach auch identitäre oder völkische Gruppen wie »Voorpost« oder der rechtsextreme Studentenklub »Schild & Vrienden« nicht weit. Freilich hingegen ist sich sicher. »Die N-VA ist kein Vlaams Belang-light. Wenn hier jemand einen Nazi-Hintergrund hat, wird er ohne Pardon aus der Partei geworfen. Das ist beim Vlaams Belang eben nicht der Fall.«
Und die Sache mit der Schechita? Erst zu Jahresbeginn verbot die flämische Regionalregierung das rituelle Schlachten. Gerade Ben Weyts, der N-VA-Minister für Tierwohl, spielte dabei eine aktive Rolle. Für Freilich ist dies zumindest kein Hinderungsgrund. »Alle anderen Parteien stimmten ebenfalls für das Gesetz.« Was zukünftige Debatten, beispielsweise über die Beschneidung oder jüdischen Schulunterricht angeht, sieht er sich innerhalb der Partei als Ansprechpartner. »Ich will dafür sorgen, dass jüdische Befindlichkeiten besser bekannt sind.«
Mit genau dieser Haltung stößt Freilich aber nicht immer auf Gegenliebe. So warf ihm die liberale Zeitung »De Standaard« vor, er habe sich zum »de-facto-Wortführer der Juden von Antwerpen« aufgeschwungen, der »zehn Klassen über seinem Gewicht« boxe. Bereits 2016 widmete ihm die linke »De Morgen« unter der Überschrift »Wenn Michael Freilich spricht, müssen alle schweigen« einen ganzen Artikel. Darin wird er als Sprachrohr einer chronisch überempfindlichen Bevölkerungsgruppe dargestellt, die »immer weniger toleriert«, weshalb Freilich den lieben langen Tag Entschuldigungen einfordern würde.
Engagement Freilich selbst dagegen bezeichnet sich als einen »Brückenbauer«. Wohl aber gesteht der Publizist ein, dass er einen unbestreitbaren Drang verspürt, sich zu engagieren und einzumischen. Was seine Motive dafür sind? »Es ist wie eine Mission, die ich fühle. Wenn ich es nicht tue, macht es niemand«, so lautet seine Erklärung. »Diese Mission setze ich nun fort. Wenn ich es nicht bin, der in die Politik geht, wer aus unserer Gemeinschaft würde das sonst tun?«
Wer sich derart offensiv in die politischen Diskussionen einbringt, stößt natürlich oft auch auf Widerspruch – erst recht, wenn er das für eine durchaus nicht unumstrittene Partei tut. Freilichs Positionen sind dabei durchaus im Mainstream der jüdischen Gemeinschaft von Antwerpen angesiedelt. Denn dort, wo man einst vor allem die sozialistischen Parteien wählte und dann zumeist liberale, gehen heute immer mehr Stimmen an die N-VA. Und was die persönliche Ebene betrifft, könnte man sagen, dass Freilich aufgrund seiner Kandidatur jetzt durchaus in seiner Gewichtsklasse boxt.