Bei der Großmutter von Teri Sisa war es früher so: Als Zögling einer französischsprachigen Eliteschule sprach sie sehr gut Französisch. Türkisch dagegen konnte sie nur halb, gerade so viel, um in Istanbul durchs Leben zu kommen. Was sie vor allem in ihrer Familie sprach, war Ladino. Dies war die Sprache der Sefarden, der Nachkommen jener Juden, die Schätzungen zufolge in einer Zahl von etwa 300.000 Ende des 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben wurden und sich in ganz Nordafrika, vor allem aber im blühenden Istanbul niederlassen durften.
Doch schon Teris Eltern interessierte das Ladino nicht mehr besonders. Es galt zunehmend als die Sprache der armen Leute in der jüdischen Gemeinde. Hinzu kam in den 60er-Jahren eine staatliche Kampagne, die vor allem die Minderheiten aufforderte: Sprecht Türkisch! Dennoch gelang es Teris Großmutter durch einen pädagogischen Kniff, ihre Enkelin, die heute um die 50 und Musikarchivarin ist, für einige Zeit davon zu überzeugen, dass es sich lohnen könnte, Ladino zu lernen, erzählt Teri. Die alte Dame habe zu ihr gesagt: »Folge nicht deinen dummen Eltern, denn die sind Snobs. Rede Ladino!« Tatsächlich spricht Teri noch heute ein wenig. »Aber in meiner Familie bin ich die Letzte.«
aussterben Die alte Sprache droht auszusterben. Man geht heute von weltweit nur noch rund 150.000 Ladino sprechenden Menschen aus – die meisten von ihnen leben in Israel und auf dem Balkan. Das »Judenspanische«, das auch als das Jiddisch des Westens bezeichnet wird, betrachtet heute kaum mehr einer als seine Muttersprache. Wer es noch beherrscht, für den ist es häufig nur die Dritt- oder gar Viertsprache. Fast nur noch innerhalb der Familie wird Ladino gesprochen. Das bleibt nicht ohne Folgen: Der Wortschatz ist begrenzt. Die Sprache besitzt weder in Israel noch in der Türkei einen offiziellen Status.
Karen Gerson gilt in Istanbul als die Expertin in Sachen Judenspanisch. »Die Sprache schwindet dahin«, sagt die 50-jährige Englisch- und Ladino-Dozentin desillusioniert. In der Regel komme es nur noch Gemeindemitgliedern, die über 60 Jahre alt sind, einigermaßen über die Lippen. Gerson selbst hat als Kind Ladino gelernt. Daneben spricht sie Türkisch, Französisch und Spanisch.
Die über Jahrhunderte übliche mündliche Überlieferungstradition sei mit ihrer Generation abgebrochen, sagt Gerson. Sie habe das Ladino nicht mehr an die nächste weitergegeben. Ihr Tipp an die junge Generation ist pragmatisch: Sie könne Spanisch lernen, da sie mit dieser modernen Sprache das Ladino wenigstens leichter verstehe. Ein Beispiel sei ihre Tochter: »Sie spricht heute statt Ladino Spanisch. Sie hatte keine andere Wahl.« Gerson ist nüchtern. Ladino habe wohl seine Funktion erfüllt: Es habe die Identität der Gemeinde für lange Zeit mitgeprägt. Aber nun gebe es kaum noch Chancen, die Sprache zu bewahren.
Sprachkurse Vor sechs Jahren hat Gerson dennoch in Istanbul das Sefardische Zentrum gegründet, eine Institution der dortigen jüdischen Gemeinde. In ihrem Zentrum hat die Dozentin schon Ladino-Kurse gegeben. Immerhin 15 Studenten im Alter von 20 bis 35 Jahren hatte sie in ihrem Kurs. Weltweit bekannt ist mittlerweile auch die in Istanbul publizierte jüdische Zeitung Shalom, die eine monatliche Beilage von 24 Seiten in Ladino herausgibt. Gerade dieser Service macht die Zeitung auch international attraktiv: Immerhin 260 regelmäßige Leser gibt es weltweit, und das bei einer Auflage von nur 4.000 Stück. »Manche kaufen die Zeitung nur deshalb«, hat Gerson erfahren, »und einige von ihnen sind noch nicht mal jüdisch.«
Die Dozentin kennt zwei weitere Zaubermittel, um das Ladino zu bewahren. Das eine sei die sefardische Küche, da komme man nicht umhin, die Kultur zu bewahren, sagt sie mit leichter Ironie. Das andere sei die sefardische Musik, in der das Ladino überlebe. Gerson hat mit anderen Musikern eine eigene Ladino-Band gegründet: »Los Pasaros Sefaradis«. Außerdem tritt Gerson auf Sprachkonferenzen auf, dann allerdings mit weniger Musik, sondern eher mit Power-Point-Präsentationen. Aber auch dort würde man mit dem Publikum gemeinsam singen.
Jak Esim (51), der international wohl bekannteste Sänger sefardischer Musik aus der Türkei, sagt, das Ladino werde praktisch nur noch auf der Bühne gesprochen. Esim sitzt in Teri Sisas Musikarchiv. Natürlich, sagt er, helfe es der Sprache, wenn man sie wenigstens auf der Bühne noch singe. Bei seinen Auftritten intoniert Esim Lieder in Ladino und in Hebräisch, das sind dann die religiösen Songs. Auch er ist ohne Illusionen. Er meint, die jungen Zuhörer in seinen Konzerten würden die Texte seiner Lieder in der Regel nicht verstehen. Bestenfalls fünf Prozent des Publikums, so schätzt er, hätten eine Ahnung, wovon er genau singe. Doch das scheint ihn nicht zu belasten.
zartes Revival Dennoch gibt es – wenn auch nur in geringem Umfang – in der Türkei ein kleines Revival des Ladino. Der Istanbuler Antisemitismusforscher Rifat Bali, ein Intellektueller, wie er im Buche steht, sieht manchmal ein zartes Wiederaufleben des Judenspanischen. Aber sogleich schränkt er ein: Selbst in der jüdischen Gemeinde sei das Ladino nicht mehr wichtig. Vielleicht, meint er, sollte die Gemeinde versuchen, lieber über das Hebräische ihre Identität zu bewahren. Immerhin, Bali selbst spricht noch Ladino. Allerdings »wie eine Fremdsprache«, sagt er.
Die Lage sieht also trübe aus für das Ladino. Vom türkischen Staat ist keine Rettung zu erwarten. Doch habe man von der EU etwas Geld bekommen, sagt Karen Gerson. Auch eine englische Institution, die nicht genannt werden will, hat Geld gegeben, um das Ladino zumindest medial zu konservieren: Mit 67 Menschen, die Ladino noch als Muttersprache gelernt haben, wurden jeweils einstündige Interviews gemacht. Es ist ein Rennen gegen die Zeit.