Und der Rebbe von Nemirow pflegte alljährlich um die Selichoszeit jeden Morgen zu verschwinden. Er war nirgends zu finden: weder in der Schul, noch in den beiden Lehrhäusern, noch in einem der Betzirkel; und bei sich zu Hause schon ganz gewiss nicht. Seine Wohnung stand offen; jeder, wer nur wollte, konnte hineingehen; gestohlen wurde beim Rebben niemals. Doch in der Wohnung war keine Menschenseele.
Wo kann der Rebbe sein? Wo soll er sein? Selbstverständlich im Himmel! Hat denn so ein Rebbe vor den Schrecklichen Tagen wenig auszurichten? Juden brauchen, unberufen, Lebensunterhalt, Frieden, Gesundheit, gute Partien für die Kinder; sie wollen gut und fromm sein, doch die Sünden sind groß, und der Satan durchschaut mit seinen tausend Augen die Welt von einem Ende bis zum anderen und sieht alles und zeigt jede Kleinigkeit an. Und wer soll helfen, wenn nicht der Rebbe? So dachte sich die ganze Gemeinde.
litwak Einmal kommt aber in die Stadt ein Litwak. Er lacht! Ihr wisst doch, was ein Litwak ist: Von Andachtsbüchern hält er gar nichts, dafür stopft er sich den Kopf mit Talmudabschnitten und Bibelstellen voll. Und dieser Litwak weist aus dem Talmud nach – er sticht einem damit förmlich die Augen aus –, dass selbst Moses bei Lebzeiten kein einziges Mal in den Himmel kam, sondern stets zehn Handbreiten unter dem Himmel zurückblieb! Geh einer und streite mit einem Litwak!
»Wo kommt also der Rebbe hin?«»Meine Sorge!«, antwortet er und zuckt die Achsel; und wie er das sagt, fasst er schon den Entschluss – was ein Litwak nicht alles kann! –, der Sache auf den Grund zu gehen. Noch am selben Abend, bald nach dem Abendgebet, stiehlt sich der Litwak ins Zimmer des Rebben hinein, kriecht unter des Rebben Bett und liegt. Er will die Nacht durchwachen und sehen, was der Rebbe vor Morgengrauen, wenn die Leute zu den Selichos gehen, anfängt.
Jemand anderer an seiner Stelle würde einschlummern und die Zeit verschlafen; doch ein Litwak weiß immer Rat: Um sich wachzuhalten, nimmt er im Kopfe einen ganzen Talmudabschnitt durch; ich weiß nicht mehr, ob es der Abschnitt »Von den Schlachtungen« oder der »Von den Gelübden« war. Vor Morgengrauen hört er, wie man an die Läden klopft, um die Leute zum Gebet zu rufen. Der Rebbe war schon lange wach. Der Litwak hörte ihn schon seit einer Stunde seufzen.
morgengrauen Jeder, der den Nemirower Rebben nur einmal seufzen hörte, weiß, welche Trauer um das ganze Volk Israel, welche Seelenqual in jedem seiner Seufzer steckt … Es wird einem ganz bange ums Herz, wenn man ihn seufzen hört! Ein Litwak hat aber doch ein Herz aus Eisen: Er hört zu und bleibt ruhig liegen! So liegen sie beide: der Rebbe – leben soll er! – auf dem Bett, der Litwak unter dem Bett.
Etwas später hört der Litwak, wie im ganzen Hause die Betten zu knarren beginnen, wie die Hausleute aufstehen, wie hie und da ein jüdisches Wort fällt; wie das Wasser in die Waschbecken fließt und wie die Türen auf- und zugemacht werden. Dann verlassen alle das Haus; es wird wieder still; im Zimmer ist es finster; nur ein schwacher Mondstrahl dringt durch einen Spalt im Laden. Später gestand der Litwak, dass, als er allein mit dem Rebben geblieben war, ihn ein Grauen befallen hatte. Es überlief ihn heiß und kalt vor Angst, und die Wurzeln seiner Schläfenlocken stachen ihn wie Nadeln.
Es ist doch wirklich keine Kleinigkeit: mit dem Rebben allein, beim Morgengrauen in der Selichoszeit! Ein Litwak ist aber starrköpfig: Er zittert wie ein Fisch im Wasser und – liegt!
verkleidung Endlich steht der Rebbe auf. Zunächst wäscht er sich und verrichtet alles, was ein Jude am Morgen verrichten muss. Dann geht er zum Schrank und holt ein Bündel hervor; im Bündel sind Bauernkleider: ein Paar Leinenhosen, Schaftstiefel, ein Bauernrock, eine große Pelzmütze und ein breiter, mit Messingnägeln verzierter Ledergurt. Und der Rebbe zieht alle die Kleider an. Aus der Rocktasche hängt das Ende eines dicken Bauernstrickes heraus. Der Rebbe geht aus dem Zimmer, der Litwak geht ihm nach. Der Rebbe geht in die Küche, bückt sich, holt unter dem Bett eine Axt hervor, steckt sie sich hinter den Gurt und verlässt das Haus. Der Litwak zittert, bleibt aber nicht zurück.
Ein stilles Grauen, das Grauen der Selichoszeit lagert über den dunklen Gassen. Hie und da dringt der Aufschrei eines Betenden aus einem der Betzirkel oder das Stöhnen eines Kranken aus einem Fenster. Der Rebbe schleicht an den Mauern entlang, immer im Schatten der Häuser. So schwimmt er aus einem Schatten in den anderen, und der Litwak schwimmt ihm nach. Und der Litwak hört, wie das laute Pochen seines eigenen Herzens sich mit den schweren Tritten des Rebben vermengt. Er bleibt aber trotzdem nicht zurück und gelangt zusammen mit dem Rebben vor die Stadt.
zedaka Vor der Stadt gibt es ein Wäldchen. Der Rebbe – leben soll er! – geht ins Wäldchen. Nach 30, 40 Schritten bleibt er vor einem jungen Baum stehen. Der Litwak sieht mit Bestürzung, wie der Rebbe die Axt aus dem Gürtel zieht und auf den Baumstamm einschlägt. Er sieht, wie der Rebbe immer wieder ausholt; er hört, wie der Baum ächzt und knackt. Der Baum fällt, und der Rebbe spaltet den Stamm in Klötze, dann die Klötze in Späne. Dann macht er aus den Spänen eine Tracht Holz, umbindet sie mit dem Strick, den er in der Tasche hatte, lädt sie sich auf den Rücken, steckt die Axt wieder in den Gürtel und geht zur Stadt zurück.
In der hintersten Gasse bleibt er vor einem kleinen, halb eingefallenen Häuschen stehen und klopft ans Fenster. »Wer klopft?«, fragt eine erschrockene Stimme aus dem Häuschen. Der Litwak erkennt, dass es die Stimme einer Jüdin, einer kranken Jüdin ist. »Ich bin es!«, antwortet der Rebbe auf Kleinrussisch. »Wer bist du?«, fragt wieder die Frauenstimme. »Wassil!«, antwortet der Rebbe. »Was für ein Wassil? Und was willst du, Wassil?« »Ich habe Holz zu verkaufen!«, sagt der angebliche Wassil. »Sehr billig, so gut wie umsonst!« Und ohne die Antwort abzuwarten, tritt der Rebbe ins Haus.
Der Litwak schleicht ihm nach und sieht im fahlen Morgenlichte eine ärmliche Stube, zerbrochenes Hausgerät. Im Bette liegt eine kranke Jüdin, in Lumpen gehüllt, und sie spricht mit erbitterter Stimme: »Kaufen? Womit soll ich’s kaufen? Wo soll ich arme Witwe Geld hernehmen?« »Ich will es dir borgen!«, antwortet der falsche Wassil. »Es sind im ganzen sechs Groschen!« »Wie soll ich sie dir bezahlen?«, stöhnt die arme Jüdin. »Törichte Frau!«, spricht der Rebbe vorwurfsvoll. »Sieh: Du bist arm und krank, und ich traue dir das bisschen Holz: ich vertraue dir, dass du es mir bezahlen wirst. Und du hast einen so großen, so starken Gott und vertraust ihm nicht. Du traust ihm nicht einmal die dummen sechs Groschen für eine Tracht Holz!« »Und wer wird einheizen?«, stöhnt die Witwe. »Habe ich denn die Kraft, aufzustehen? Mein Sohn ist schon fort auf die Arbeit.« »Ich will auch einheizen«, sagt der Rebbe.
selichot Und während er das Holz in den Ofen legte, sprach der Rebbe stöhnend den ersten Abschnitt der Selichos. Und als er Feuer gemacht, und das Holz lustig zu flackern begann, sprach er, schon etwas lustiger, den zweiten Abschnitt. Und den dritten Abschnitt sprach er, als das Holz richtig brannte und er das Ofenblech schloss.
Der Litwak, der das alles gesehen, wurde von nun an Nemirower Chassid. Und so oft später jemand erzählte, dass der Nemirower Rebbe alljährlich zur Selichoszeit jeden Morgen die Erde verlasse und in den Himmel fliege, lachte der Litwak nicht mehr, sondern fügte still hinzu: »Wenn nicht noch höher!«
Jizchok Leib Perez wurde 1852 im polnischen Zamosc geboren. Er studierte Jura und arbeitete zunächst als Anwalt. Nachdem ihm wegen seines politischen Engagements in der jüdischen Arbeiterbewegung die Zulassung entzogen wurde, verlegte er sich auf die Literatur. Mit zahlreichen Romanen, Theaterstücken, Erzählungen und Essays wurde er zum seinerzeit bekanntesten jiddischen Schriftsteller in Polen. Jizchok Leib Perez starb 1915 im Alter von 64 Jahren. Zu seiner Beerdigung in Warschau kamen mehr als 100.000 Menschen.