Zakynthos – eine idyllische griechische Insel, wie geschaffen zum Urlaubmachen. Aber hinter der Idylle versteckt sich im wahrsten Sinne des Wortes eine unglaubliche Geschichte aus dem Jahre 1944. Die Nazis übernahmen die Insel, nachdem die italienischen Besatzer abzogen. Sie begannen wie auf allen anderen Inseln der Umgebung mit der Deportation der Juden. Aber nicht in Zakynthos. Dort rettete die Mehrheitsgesellschaft die 275 Juden der Insel.
In Zeiten, wo »Obergrenzen«, »Überflutung« und »Bedrohung des Eigenen« zu legitimen Worten des »Neusprech« werden, sollte man die Geschichte von Zakynthos wieder in Erinnerung rufen. Viel ist bisher nicht darüber geschrieben worden. In den Reiseführern stehen ein paar Sätze, aber sonst erfährt man nur wenig. Sogar etliche Zakynther wissen nichts davon. Nur ein kleines Mahnmal am Ort der ehemaligen Synagoge, die 1953 durch ein Erdbeben zerstört wurde, erinnert an die Geschichte.
Deportation Warum wurden alle 275 Juden versteckt und nicht ausgeliefert? Die Boote der Nazis waren unterwegs, die Juden der Nachbarinseln Kefalonia und Korfu bereits auf dem Weg zur Deportation. Nichts wäre einfacher gewesen für die Zakynther, als sich wie die dortige Bevölkerung zu verhalten. Aber sie taten es nicht. Die gesamte jüdische Gemeinde von Zakynthos überlebte, weil der Bürgermeister und der Bischof es so wollten und die Zakynther damit einverstanden waren.
Die Rettung der Juden von Zakynthos war eine bewusste Tat, keine Konsequenz des Nichthandelns. Handlungsspielräume wahrnehmen heißt demnach auch, dass wir eine Wahl haben. Denn die Alternative lautet, keine Wahl mehr zu haben. Die Zakynther haben gezeigt, dass das nicht vorbestimmt ist. Es geht daher um nicht weniger, als den verschmähten Begriff der Humanität und des Humanismus wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Das ist die Flaschenpost aus Zakynthos.
Aber mehr noch steht bei dieser Geschichte auf dem Spiel. Man sollte vorsichtig mit der Geschichte umgehen, damit am Ende nicht ein universell moralisierender Diskurs über den Rettungsbegriff das historische Urteilsvermögen ablöst.
Es geht dabei auch um die Frage, wie weit der Kreis des »Wir« gespannt werden kann. Wer genau ist »der Nächste«, den wir lieben sollen wie uns selbst? Und wer kann uns hier vor sentimentalem Kitsch bewahren, der uns sehr gern erzählen will, dass wir nun alle Menschen seien? Menschen handeln in Extremsituationen aus den verschiedensten Motiven, und wir sollten es nicht darauf ankommen lassen, diese Motive auszuloten. Das war damals so und ist heute nicht viel anders.
Der konkreten Retter in ihrem konkreten Handeln zu gedenken, kann in der Tat ein Schritt dahin sein. Dazu gehört auch ein transzendentaler Horizont, der die Alleinherrschaft des Menschen über sich selbst kontinuierlich infrage stellt. Es ist daher kein Zufall, dass wir eine hohe Zahl religiöser Menschen unter den Rettern finden. Es war Bischof Chrysostomos, der in den 20er-Jahren in Deutschland studiert hatte, der seinen eigenen Namen und den des Bürgermeisters Loukas Carrer auf die von den Nazis geforderte Judenliste setzte. Sonst gab es keinen weiteren Namen auf der Liste. »Hier sind Ihre Juden«, sagte er dem deutschen Kommandanten und händigte ihm die Liste aus.
Wertesystem Hierbei geht es um das »Nie wieder«. Die Formulierung des »Nie wieder« kann auch auf der Fantasie von möglichen Alternativen beruhen. Nicht um das Prinzip Hoffnung für eine bessere Welt geht es, sondern um die Furcht, dass die Welt schlechter wird, wenn dieser Horizont fehlt. Die Erinnerung an den Holocaust – einschließlich der Erinnerung an die Retter – wird in diesem Sinne zu einem Mahnmal an die allgegenwärtige Modernisierung der Barbarei. Die Erinnerung an den Holocaust kann daher gerade in der gegenwärtigen Krise zu einer europäischen Erinnerung führen, die Europa dazu verhelfen kann, ein eigenes, wenn auch negatives Wertesystem zu entwickeln. Dazu gehört auch die Rettung.
Die sogenannten Gerechten unter den Völkern – eine von der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ins Leben gerufene Institution, um nichtjüdische Einzelpersonen zu ehren, die während der Schoa Juden retteten – werden zum Beispiel vom Europarat als Vorbild und Muster für junge Europäer betont. Es handelte sich bei den »Gerechten« um einfache und gütige Menschen, für die es selbstverständlich war, Fremde zu retten. 1978 erwies Yad Vashem Lucas Carrer und Metropolit Dimitrios Chrysostomos diese Ehre.
Dieses neue Europa, auf das sich natürlich nicht nur der Europarat beruft, ist politisch bewusst nach dem Zweiten Weltkrieg als Antithese zum nationalistischen Europa und seiner physischen und moralischen Verwüstung aus der Taufe gehoben worden. Die Rettung steht daher auch sinnbildlich für die zu rettende Moderne Europas.
Kann man so eine menschliche Solidarität zu einem Bildungsprinzip erklären? Kann man so die Not der heutigen Flüchtlinge beschreiben? Hier sollte man natürlich bescheiden bleiben. Denn wenn die Geschichte und die Institutionen zusammenbrechen, dann wollen wir natürlich an die menschliche Solidarität jenseits der Geschichte und der Institutionen appellieren. Alles andere wäre unmenschlich. Aber vielleicht sollte man mit der Einsicht beginnen, dass wir alle verwundbare Menschen sind. Das wäre auf jeden Fall ein Anfang.
Würde Im Namen wessen kann man überhaupt wissen, dass jemand würdig ist, gerettet zu werden? Genau hier werden die Quellen des Widerstands wichtig, in denen sich die Bedingungen des erfahrenen Mitleidens damals in Zakynthos, der Solidarität und der verteidigten menschlichen Würde spiegeln. Die radikal selbstkritische europäische Erinnerung an den Holocaust zerstört nicht die Identität Europas, sondern ganz im Gegenteil: Sie konstituiert sie. Es geht also hier um das Mitleiden – die Fähigkeit, den Schmerz fremder Menschen in die eigene Welt mit einzubeziehen.
Die Geschichte von Zakynthos ist daher wie eine Flaschenpost, in Seenot aufgegeben in der Hoffnung, an Land gespült zu werden. Heute gibt es auf Zakynthos keine Juden mehr. Sie verließen die Insel, die letzten von ihnen 1953 nach dem zerstörerischen Erdbeben. Die meisten von ihnen und ihre Nachfahren leben heute in Israel. Sie wurden im Süden Tel Avivs in dem ehemaligen arabischen Dorf Salame, das heute Kfar Schalem heißt, angesiedelt. Auch das ist eine Folge des »Nie wieder«.
Der Autor ist Professor für Soziologie am Academic College Tel Aviv-Yafo.