Überall in New York sieht man sie, die Rettungswagen mit den blauen Streifen und dem goldenen Aufdruck auf den Seiten: »Chewra Hatzolah«, »Hatzolah Volunteer Ambulance«. In Brooklyn wird die Dichte dieser Rettungsautos größer, besonders oft sieht man sie in Borough Park, wo die meisten chassidischen Juden der Stadt leben.
Die Chewra Hatzolah hat einen guten Ruf. In null Komma nichts sind die privaten Rettungswagen da, wenn man sie braucht. Ihre Mannschaften – alles Männer mit Bärten und Hüten – arbeiten hochprofessionell. Sie sind 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche im Einsatz: auch am Schabbat und auch an den Hohen Feiertagen. Nach dem jüdischen Gesetz ist es bekanntlich nicht nur erlaubt, sondern es ist geboten, die anderen halachischen Regeln über den Haufen zu werfen, wenn ein Menschenleben auf dem Spiel steht.
In erster Linie werden die Dienste der Hatzolah-Wagen von den Ultrafrommen in Anspruch genommen: Sie fühlen sich wohler, wenn sie etwa am Schabbat den medizinischen Notfalldienst rufen und erleben, dass jene, die ihnen helfen, keine »Gojim« sind, sondern ebenso »Chillul Schabbes«, also die Gesetze des Schabbats brechen wie sie selbst. Es gibt aber auch noch andere religiöse Bedenken, zum Beispiel die Vorschrift des »Zniess«, also der schicklichen Bekleidung. Viele fühlen sich in den Händen frommer jüdischer Sanitäter besser aufgehoben.
Aber selbstverständlich antworten die Hatzolah-Rettungswagen auch auf Notrufe von Nichtjuden. Bei den Anschlägen am 11. September 2001 sollen sie sogar als Erste bei den Zwillingstürmen in Manhattan eingetroffen sein.
Streit Doch nun ist innerhalb der Hatzolah-Organisation ein Streit entbrannt. Im Mittelpunkt jenes Streits steht Rachel Freier, eine Frau in ihren 40ern, die in zwei Welten gleichzeitig lebt. Sie ist als Kind einer Großfamilie in der chassidischen Gemeinschaft von Borough Park groß geworden und hat als Erwachsene keineswegs mit der Gemeinde gebrochen. Sie ist verheiratet und hat sechs Kinder – ganz so, wie es sich gehört.
Dennoch hat Rachel Freier etwas getan, was im Lebensplan von ultrafrommen jüdischen Frauen eigentlich nicht vorgesehen ist: Statt sich mit einem Dasein als Hausfrau und Mutter zu begnügen, hat sie nebenbei Jura studiert und arbeitet heute für eine bekannte New Yorker Anwaltskanzlei. Sie versteht sich dabei keineswegs als Rebellin. »Ich bin die Letzte, die chassidischen Frauen sagt: Geht studieren«, meinte sie schon vor Jahren in einem Interview.
»Die meisten Leute sind nicht dafür geschaffen, sie sollten es nicht tun. Aber meine Familie unterstützt mich, und ich interessiere mich leidenschaftlich für die Gesetze.« Ihre Heimat sei trotzdem die orthodoxe Gemeinschaft. Wenn sie nach der Arbeit mit der Subway nach Borough Park zurückkehre, sei sie jedes Mal glücklich, nach Hause zu kommen, erzählt sie.
generationen Worum geht es in dem Streit, den Rachel Freier entfacht hat? In einem Radiointerview mit Dov Hikind – er ist selbst ultraorthodox und sitzt als Abgeordneter in der State Assembly des Bundesstaates New York – hatte sie angeregt, es sollten auch Frauen bei Hatzolah mitwirken. Riesenaufregung! Sturm im Schtetl! So geht’s ja nicht! Bei Hatzolah arbeiten seit Generationen – genauer gesagt, seit 40 Jahren – nur Männer, wo kämen wir denn da hin?
Hatzolah ist ein gemeinnütziger Verein, der durch Spenden finanziert wird. An seiner Spitze steht als Vorstandsvorsitzender Rabbi David Cohen. Er kommentiert: »Das wurde schon vor Jahren von unserem rabbinischen Beirat diskutiert. Er sagte, wir sollten es nicht tun. Und es gibt keinen Grund, es in unseren Plan aufzunehmen.« In Blogs werden Rachel Freier und ihre Unterstützerinnen als »radikale Feministinnen« bezeichnet, ja beschimpft.
Wo liegt aus rabbinischer Sicht das Problem? Es sind die oben angesprochenen Gesetze der »Zniess«, also des züchtigen Umgangs der Geschlechter. Allerdings ist nun gerade dies der Grund, warum Freier und ihre Freundinnen meinen, dass Hatzolah ein paar weibliche Mitglieder gut vertragen könnte. Es gehe ihnen ja gar nicht darum, zu den Ersten zu gehören, die hinausgerufen werden, sagen sie. Aber sie würden gern in zweiter Reihe zur Verfügung stehen. Denn was ist etwa, wenn eine Frau ganz plötzlich ihre Wehen bekommt und ein Kind gebiert? Die Männer dürfen dann nicht einmal ihre Hand halten (weil es nach den Regeln der Halacha nicht gestattet ist, eine andere als die eigene Frau zu berühren).
»Ich habe ganz persönlich den Unterschied gesehen, den es ausmacht, wenn eine Frau einer Gebärenden zur Seite steht«, sagt eine orthodoxe jüdische Sanitäterin aus Borough Park. Rachel Freier ergänzt: »Hatzolah leistet hervorragende Arbeit, aber die Zeiten haben sich geändert. Heute gibt es Sanitäterinnen, die genauso gut ausgebildet sind wie Sanitäter. In Notfällen wäre es Frauen viel angenehmer, wenn sie von anderen Frauen versorgt würden.«
Präzedenzfall Dov Hikind nennt Rachel Freiers Idee »erwägenswert«. Er sei sich sicher, dass Hatzolah zuhören und darüber nachdenken wird. Bisher sieht es nicht danach aus. Freiers Unterstützer weisen darauf hin, dass in New Square, einem chassidischen Ort im Norden des Bundesstaates New York, Frauen längst in Hatzolah-Rettungswagen mitfahren. Rabbi David Cohen reagiert auf diesen Einwand mit dem Hinweis, dass es sich bei New Square um einen kleinen Ort handle. Viele fragen sich: Was hat die Größe eines Ortes damit zu tun, ob eine Praxis aus halachischer Sicht richtig oder falsch ist?