»Die Dorftrottel Europas» – diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung hörten in den späten 60er-Jahren Schweizer Männer gelegentlich im Ausland. Diese Beleidigung mussten sie über sich ergehen lassen, weil sie «ihren» Frauen weiterhin das Recht verweigerten, sich an nationalen Sachabstimmungen oder Wahlen zu beteiligen. Die Schweiz als reiches Land gab damit ein mehr als unschönes Bild ab.
Vor 50 Jahren, am 7. Februar 1971, wurde dieser Zustand endlich korrigiert – und dies selbstverständlich, wie sich das bei den Eidgenossen gehört, mit einer Volksabstimmung. Die historische Abstimmung erbrachte ein eindeutiges Ergebnis: Rund 65 Prozent der stimmenden Männer nahmen die Vorlage an, ebenso die meisten Kantone.
stimmlokal Ein halbes Jahrhundert später erinnert sich Myrthe Dreyfuss noch gut an jenen Tag. Die heute 93-Jährige begleitete damals ihren Mann in Zürich bis vor das Stimmlokal, aber auch nicht weiter, denn als Nicht-Stimmberechtigte durfte sie nicht mit hinein.
Am 7. Februar 1971 stimmten die Schweizer Männer darüber ab, ob die Frauen wählen dürfen.
«Die Abstimmung war bei uns zu Hause im Vorfeld ein großes Gesprächsthema», erzählt Myrthe Dreyfuss. Dies lag vor allem daran, weil ihre Mutter damals im Komitee für das Frauenstimmrecht war, sich also für das Recht der Frauen einsetzte.
«Ich empfand die Tatsache, dass die Schweizerinnen bis in die 70er-Jahre nicht abstimmen durften, als besonders seltsam, denn ich hatte in den USA studiert und in Frankreich gelebt. In beiden Ländern war das Wahlrecht für Frauen längst eine Selbstverständlichkeit!»
BENACHTEILIGUNG Wenn Myrthe Dreyfuss heute auf ihr Leben zurückblickt, empfindet sie die Benachteiligung von Frauen als sehr unangenehm und befremdlich. Sie, die 1955 als Ökonomin über das Thema «Erwerbsarbeit der Schweizer Frauen» promoviert hatte, schrieb in der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz Geschichte.
Als erste Frau wurde sie 1985 in die Geschäftsleitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) gewählt. Und dies sehr spektakulär in einer seltenen Kampfabstimmung – gegen eine andere Frau. Dass nun endlich auch bei der Führung der Schweizer jüdischen Gemeinschaft die Frauen Einzug halten sollten, lag sozusagen in der Luft – denn nur einige Monate zuvor war mit Elisabeth Kopp die erste Frau in die Schweizer Landesregierung gewählt worden.
Fast ein wenig belustigt erinnert sich Myrthe Dreyfuss daran, wie damals die Ressorts verteilt wurden: «Für meine männlichen Kollegen in der Geschäftsleitung war irgendwie klar, dass ich das Sozialressort übernehmen würde. Soziale Fragen, das gehöre ganz einfach in weibliche Hände, war damals die Meinung. Und ich hatte damit eigentlich auch keine Probleme.»
Dennoch: Dass es so überhaupt kein Thema war, sie als studierte und sogar promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin zum Beispiel mit dem Finanzressort zu betrauen, findet sie bis heute sehr seltsam.
dISTANZ Auch für Vera Kronenberg ist der 7. Februar 1971 in der Rückschau bemerkenswert. Die langjährige Präsidentin des Bundes Schweizerischer Jüdischer Frauen (BSJF) hatte damals allerdings wenig Zeit, sich um die Abstimmung zu kümmern.
«Ich war mit meinem Mann eben zurück aus Paris, außerdem schwanger mit unserem ersten Kind und verfolgte das Ganze darum aus einer gewissen Distanz.» Dies lag auch daran, dass ihr Mann Franzose ist und somit in der Schweiz nicht stimmberechtigt war.
Zu den folgenden Abstimmungen, vor allem der im Mai 1971, an der die Schweizer Frauen dann erstmals teilnehmen durften, ging auch Vera Kronenberg an die Urne – und an diesem Engagement als Bürgerin hat sich bis heute nichts geändert.
engagement Kronenberg ist davon überzeugt, dass der Schwung jener ersten Abstimmungstage mittelfristig auch die jüdischen Frauen in der Schweiz stark beflügelt hat. Für diese habe sich das neben dem BSJF unter anderem auch bei ihrem Engagement für WIZO-Aviv, eine Tochterorganisation der WIZO (Women’s International Zionist Organisation), gezeigt.
«Beim ersten Libanon-Krieg 1982 standen wir auf der Straße, um israelische Produkte zu verkaufen. Auch in der Schweiz waren die Anfeindungen gegen Israel damals groß, doch lernten wir in Kursen, wie wir damit umgehen konnten und versuchten, sachliche Diskussionen mit den Vorbeigehenden zu führen.»
So habe, sagt Kronenberg, die reife Zivilgesellschaft, für die die Gleichberechtigung der Geschlechter eine Selbstverständlichkeit sei, auch in den jüdischen Frauenorganisationen der Schweiz Einzug gehalten.» Die heutigen jüdischen Frauen, für die das Recht abzustimmen, eine Selbstverständlichkeit sei, würden politischer denken als die Frauen ihrer Generation, meint sie.
ELTERNHAUS Diese Aussage gilt wohl auch für Ayala Stefansky. Die 33-jährige Lehrerin und Mutter von drei Kindern wuchs in einem orthodoxen Elternhaus in Zürich auf. Der Moment, als sie als 18-Jährige zum ersten Mal einen Stimmzettel zugeschickt bekam, sei «sehr speziell» gewesen, erzählt sie: «Ich war unglaublich stolz − aber diesen Stolz empfand ich damals wohl eher als eigenständiger junger Mensch denn als Frau.»
Die erste Frau in der Geschäftsführung des SIG gab es erst 1985.
Über die denkwürdige Abstimmung von 1971 habe sie zu Hause allerdings wenig erfahren, ihre Eltern seien nicht sehr politisiert gewesen. «Wenn es um die Meinungsbildung bei umstrittenen Vorlagen ging, konnten sie mir nicht wirklich weiterhelfen.»
Heute sei das anders, sagt Stefansky. Sie und ihr Mann würden gewisse Abstimmungen heiß diskutieren. Das gelte auch für eine Vorlage, über die am 7. März in der Schweiz abgestimmt wird. Dort sind die Rechte von Frauen ebenfalls ein Hauptthema. Dann müssen nämlich auch die Stimmbürgerinnen entscheiden, ob sie wollen, dass es in der Schweizer Verfassung ein Burkaverbot geben soll.