Als Kobi Lichtenstein 1988 zum ersten Mal nach Brasilien reiste, wusste er sofort: Hier bin ich richtig – ein Land mit hoher Alltagskriminalität, in dem viele Waffen in Umlauf sind, ein Land wie geschaffen für die israelische Selbstverteidigungstechnik Krav Maga. 29 Jahre später ist Großmeister Kobi Lichtenstein der Krav-Maga-Experte für ganz Südamerika.
Ein Haus aus der Kolonialzeit, hübsch restauriert, pastellgrün, in einer Seitenstraße in Botafogo, einem Stadtteil Rio de Janeiros – von außen sieht man dem Haus nicht an, dass darin der Federação Sul Americana de Krav Maga sitzt, Südamerikas Verband für die israelische Selbstverteidigungstechnik. Hier läuft alles zusammen, was sich zwischen Feuerland und der Karibik mit diesem Thema beschäftigt.
Umkleide Unten wirkt alles eng. Eine kleine Theke, ein Drehkreuz. Dahinter geht es rechts ab in eine Art Büro. Geradeaus gelangt man in die Umkleideräume. Weiter führt der Gang zu einer Art Aufenthaltsraum mit Therapiebecken. Hier stehen Hocker im Raum, und an der Decke hängen Fernsehbildschirme, auf denen man das Training im ersten Stock beobachten kann.
Schließlich gelangt man in einen Saal, auf dessen Boden eine riesengroße blaue Matte liegt. Die Spiegelwand erinnert an eine Ballettschule – auch beim Krav Maga dient sie dazu, dass die Schüler ihre Bewegungen selbst überprüfen und damit korrigieren lernen. Hinzu kommt, dass die Spiegel den eher kleinen, stickigen Raum optisch größer wirken lassen. An der Stirnseite des Raums hängt ein Schwarzweiß-Bild des Erfinders von Krav Maga, Imrich Lichtenfeld, eingerahmt von den Fahnen Brasiliens und Israels.
Etwa 15 Schüler in weißen Hosen, weißen T-Shirts, aber unterschiedlich farbigen Gürteln trainieren immer und immer wieder dieselben Bewegungen, bis ihnen der Ablauf in Fleisch und Blut übergeht.
Vereine In Brasilien gibt es in 18 Bundesstaaten Vereine, in denen man Krav Maga lernen kann, also in praktisch jeder großen Stadt. Allein in Rio sind es 48 Einrichtungen. Insgesamt mehr als 12.000 Aktive gibt es derzeit in Brasilien – Tendenz steigend. »Wir verzeichnen jedes Jahr einen Zuwachs von rund 20 Prozent«, sagt Lichtenstein.
Die meisten dürfte er persönlich kennen, zumindest die, die länger dabei sind. Denn ab dem grünen Gürtel nimmt Lichtenstein persönlich die Prüfungen ab. Dann kommen die Kandidaten aus ganz Brasilien nach Rio, um sich von Großmeister Kobi testen zu lassen.
Etwa ein Drittel aller Schüler sind Frauen. Vor einiger Zeit berichteten Fernsehsendungen über Krav Maga, danach stieg vor allem die Zahl der Frauen an. »Es müssten aber viel mehr sein«, sagt Isabella, 21-jährige Krav-Maga-Schülerin aus Curitiba. Frauen würden schließlich besonders oft Opfer von Gewaltverbrechen.
Aber auch Kinder lernen bereits Krav Maga. Lichtenstein hat einen Sohn und eine Tochter, natürlich haben auch sie Krav Maga gelernt. Freiwillig, wie er betont. Sein Sohn, 23 Jahre alt, hat inzwischen den schwarzen Gürtel und unterrichtet selbst.
Ginge es nach Kobi Lichtenstein, sollte jedes Kind in Brasilien die Selbstverteidigungstechnik lernen. – Ist das nicht übertrieben? »Nein«, Großmeister Kobi schüttelt den Kopf. »Eines Tages kommt der Tag, an dem Krav Maga für sie wichtig werden wird.« Das sagt er mit einer solchen Gewissheit, dass sich weiteres Nachfragen erübrigt.
Gewalt Die Gründe, die die Schüler Lichtensteins nennen, weshalb sie mit Krav Maga begonnen haben, klingen so, als hätte er recht mit seiner These. Zunehmende Gewalt, wachsende Angst vor Überfällen, ein stetes Gefühl der Unsicherheit treibt die Menschen in die Sporthallen.
Marcelo ist 35 und extra aus Brasilia angereist. Er will die Prüfung für den blauen Gürtel ablegen. Fünf Jahre trainiert er schon. »Früher war ich etwas kleiner und schmächtig«, erzählt er. Um nicht von den Größeren herumgeschubst zu werden und sich sicherer zu fühlen, begann er mit Krav Maga. Anwenden musste er es bislang noch nicht. »Zum Glück«, sagt er. Bei aller Technik: Die beste Selbstverteidigung sei es, brenzlige Situationen zeitig zu erkennen und auszuweichen.
Dafür hatte Daniel keine Zeit. Vor sechs Jahren zog er nach Brasilien, der Liebe wegen. »Keine sechs Stunden im Land, hatte ich schon eine Pistole im Rücken«, erzählt er. »Ein Scheißgefühl.« Als groß gewachsener Blondschopf sei er leicht als Gringo auszumachen. Das machte ihn zu einem scheinbar leichten Opfer. Das unsichere Gefühl wollte er loswerden, googelte ein wenig nach Selbstverteidigung und landete bei Krav Maga. Seither trainiert er mindestens zweimal die Woche. Ob Zufall oder nicht – seither ist ihm nichts mehr passiert.
Krav Maga ist kein Kampfsport. Wörtlich übersetzt bedeutet es so viel wie »Kontaktkampf«. Beim Kampfsport lernt man Techniken, um sie möglichst vollendet beim Wettkampf Preisrichtern vorzuführen. Bei der Selbstverteidigungstechnik Krav Maga gibt es keine Wettkämpfe. Man lernt es, um zu überleben.
Der Wettkampf ist hier der reale Raubüberfall auf der Straße. Und der gehört in Brasilien zum Alltag: 2014 gab es allein in Rio 70.113 Raubüberfälle – knapp 200 jeden Tag. Deshalb werden auch Stöcke, Attrappen von Messern oder Pistolen ins Training einbezogen. Jeder Gegenstand kann eine Waffe sein. Da wundert es nicht, dass Krav Maga, aber auch andere Kampfsportarten in Brasilien enorm populär sind.
Geschichte Entwickelt wurde Krav Maga von Imrich Lichtenfeld. Er war Boxer und Ringer und wuchs in Bratislava auf. Sein Vater, ein Polizist, hatte ihm Jiu-Jitsu beigebracht. In den 30er-Jahren unterrichtete Lichtenfeld zum ersten Mal seine Kampfmethode, damit sich die in der Tschechoslowakei lebenden Juden gegen antisemitische Übergriffe zur Wehr setzen konnten. Später emigrierte er nach Palästina. Nach Gründung des Staates Israel wurde er Kampfausbilder beim Militär.
Bei ihm lernte auch Kobi Lichtenstein als Kind. Mit 15 begann er, selbst Krav Maga zu unterrichten. Mit Anfang 20 entdeckte er Südamerika für sich. Nach seiner Reise berichtete er seinem Lehrmeister von Brasilien und dass dies ein idealer Ort sei, Krav Maga zu lehren.
Lichtenstein unterrichtet nicht nur Zivilisten. Er trainiert auch das brasilianische Militär und sogar das berüchtigte Sondereinsatzkommando BOPE (Batalhão de Operações Policiais Especiais). Jeder scheint Lichtensteins Know-how nutzen zu wollen. Er ist in Brasilien ein gefragter Mann.
Obwohl von einem Juden entwickelt, zieht Krav Maga nicht mehr Juden an als die Klubs anderer Sportarten. Wie viele Juden unter seinen Schülern sind, weiß Kobi Lichtenstein nicht. Was sie vereine, sei nicht das Judentum, sondern »der Wunsch, sich verteidigen zu können«.