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Wege aus der Not

Der Coronavirus-Pandemie etwas Gutes abzugewinnen, sieht Nick Holton berufsbedingt als seine Pflicht an. Seit zwölf Jahren lehrt der Psychologe an der Milken Community School, einer der angesehensten jüdischen Privatschulen im Großraum Los Angeles.

»Man braucht gewisse Fähigkeiten, um ein gutes Leben zu führen«, sagt der 37-Jährige. Seinen Kurs in positiver Psychologie bot Holton vor der Ausgangssperre nicht nur seinen Schülern der siebten bis 12. Klasse an, sondern auch deren Eltern. Seit die Schule Mitte März wegen des »Safer at Home«-Erlasses des Gouverneurs von Kalifornien schließen musste, kann jetzt jeder an dem zweiwöchigen virtuellen Seminar teilnehmen.

CHANCE Etwa 40 Interessierte schalten jeden Tag ein. »Ich versuche, Wege aufzuzeigen, wie man eine Krise nicht nur überstehen, sondern auch daran wachsen kann«, erklärt Holton. Durch Dankbarkeitsübungen lernen seine Zuhörer, die Quarantäne als Chance zu begreifen.

»Manche sehen ein, dass sie vieles im Leben für selbstverständlich gehalten haben, oder dass sie vielleicht gar nicht so viel materiellen Wohlstand brauchen«, sagt Holton, der auch Spitzensportler und Vorstandsvorsitzende berät.

Seinen Lehrstoff hat Holton, der nicht jüdisch ist, in enger Zusammenarbeit mit Rabbi Gordon Bernat-Kunin, dem Rabbinic Director der Schule, entwickelt. »Es geht um jüdische Prinzipien wie Teschuwa (Umkehr), Kehilla (Gemeinschaft) und Kawod (Ehre)«, sagt er.

MOTIVATION Whitney Fisch leitet Milkens Team von Schulpsychologen. Sie und ihre Kollegen haben festgestellt, dass während dieser Krise die Eltern mehr Hilfe brauchen als die Schüler.

»Normalerweise verbringen die Jugendlichen den ganzen Tag in der Schule«, sagt sie. Den Eltern fehle die Kompetenz, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten und dem eigenen Beruf nachzugehen.

Fisch, die selbst Mutter von drei Kindern ist, versucht vor allem zu beruhigen. Eltern fragten nach dem Unterschied zwischen normalem und krankhaftem Verhalten. »Unsere Kinder sind nicht mehr wie vor der Pandemie. Folglich müssen wir unsere Erwartungen anpassen«, rät sie.

LERNPROZESS Es gehe nicht mehr um schulische Leistung, sondern um den Lernprozess in einer Krise. »Es ist schon unter normalen Umständen schwierig, einen Teenager zu etwas zu motivieren«, sagt Fisch. Trauer um das Leben vor der Pandemie sei normal und zu erwarten.

An Erwachsene und Kinder, die nicht nur unmotiviert, sondern regelrecht depressiv sind, wendet sich Jonah Sanderson. Er studiert an der Academy for Jewish Religion in Los Angeles. Durch den Suizid eines Freundes vor etwa drei Jahren auf den Plan gerufen, gründete der heute 31-Jährige Back Engaged Now, die nach seinen Angaben einzige jüdische Initiative zur Prävention von Selbstmord in Kalifornien.

»Während dieser Krise brauchen die Eltern mehr Hilfe als die Kinder«, sagt die Schulpsychologin Whitney Fisch.

»Kindertagesstätten, die an kleinere Gemeinden angeschlossen waren, haben von heute auf morgen dichtgemacht«, sagt er. Sowohl die Betreuer, die sich in die Schlange der neuerlich Arbeitslosen einreihen, als auch die überforderten Eltern der Kleinkinder (in den Vereinigten Staaten gibt es kein Kindergeld) bräuchten nun Hilfe.

Sanderson gewann sieben Psychothera­peuten, die unentgeltlich Zeit und Erfahrung zur Verfügung stellen. Über die Facebook-Seiten der Gemeinden Ahavat Shalom und Shomrei Torah werden die wöchentlich halbstündigen Sitzungen vermittelt. Die Therapeuten haben sich bis Ende September verpflichtet.

Die jüdische Gemeinschaft habe das Thema Selbstmord bisher sträflich vernachlässigt, findet Sanderson. »Juden und Schwarzen wurde zu oft gesagt, wir sollten unsere Gefühle wegstecken, wegbeten − denkt an den Holocaust und (die rassistischen Gesetze bei) Jim Crow«, sagt er.

HOTLINE Die Disaster Distress Helpline, eine Notrufnummer für Menschen, die emotionale Unterstützung im Falle einer Natur- oder menschengemachten Katastrophe suchen, verzeichnete im März im Vergleich zum Vormonat einen Anstieg der Anrufer um 338 Prozent.

Viele Juden wollten nichts vom Gemeindeleben wissen, so Sanderson. Mit seiner Initiative will er diese Menschen erreichen. »Wenn wir den Leuten zeigen, dass wir sie unterstützen und ihnen helfen, ihre geistige Gesundheit wiederzuerlangen, dann werden sie sich in der jüdischen Gemeinschaft engagieren«, glaubt er.

Anders als Sanderson geht es Marie Pedersen auch um die Hilfe für nichtjüdische Bedürftige. Deswegen packt die 60-Jährige Papiertüten mit Lebensmitteln für Familien in Koreatown, einem dicht besiedelten, 2,5 Quadratmeilen großen Areal unweit der Stadtmitte von Los Angeles, dessen etwa 97.000 Einwohner überwiegend nicht jüdisch sind.

Das Karsh Center, in dem Pedersen ehrenamtlich mitarbeitet, hat seit Ausbruch der Pandemie Mitte März eine Vervierfachung der Hilfesuchenden verzeichnet, sagt die Direktorin Lila Guirguis. In diesem Zeitraum haben Mitarbeiter und Freiwillige rund 23.000 Windeln und 3400 Tüten mit Lebensmitteln ausgegeben. Der Inhalt einer Tüte reicht für sechs Mahlzeiten.

»Dass wir anderen Menschen helfen, ist Teil unserer Kultur«, sagt Pedersen. »Es ist für mich untrennbar mit meinem Jüdischsein verbunden.«

»Neben der Not ist auch die Widerstandsfähigkeit unserer Kunden gestiegen«, beobachtet Guirguis. »Familien halten zusammen, um den Kindern in der Krise ein gutes Leben zu bieten.«

TAFEL Die moderne Einrichtung liegt auf dem Gelände des Wilshire Boulevard Temple, einer der größten Reformgemeinden in Los Angeles, ist aber unabhängig. Das Karsh Center übernahm die Arbeit der Tafel, die Freiwillige aus der Gemeinde um Jean Pedersen, Maries Mutter, vor etwa 30 Jahren gründeten.

Jean Pedersen war damals Vorsitzende des Frauenvereins. Die alleinerziehende Schuldirektorin vermittelte ihrer Tochter und deren Bruder, dass zu einem erfüllten jüdischen Leben gehört, zu geben, was man kann.

»Dass wir anderen Menschen helfen, ist Teil unserer Kultur«, sagt Pedersen. »Es ist für mich untrennbar mit meinem Jüdischsein verbunden.«

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