Nach mehr als zwei Jahrzehnten an der Spitze der Jüdischen Gemeinde in Prag ist Karol Sidon als Oberrabbiner zurückgetreten. Die Gemeinde wählte den 38-jährigen David Peter zu seinem Nachfolger. Sidon bleibt jedoch weiterhin tschechischer Oberrabbiner. Wegen seines Privatlebens und des Wirbels um ein Buch, das er unter Pseudonym veröffentlicht hat, ist Sidon zuletzt in die Kritik geraten.
In einem Interview mit tschechischen Journalisten hat der 72-Jährige bestätigt, dass er eine neue Partnerin habe. Seine dritte Ehe sei gescheitert, sagte er in dem Gespräch; für ihn habe es deshalb Priorität, sein Privatleben zu ordnen. Innerhalb der Gemeinde waren zuvor Fragen laut geworden, ob Sidon noch über die notwendige moralische Autorität verfüge, die Gemeinde zu führen.
Roman Bereits im Frühjahr hatte Sidon für Schlagzeilen gesorgt, als bekannt wurde, dass ein neu erschienener Roman aus seiner Feder stammt. In seinem Buch Die Altschul-Methode, das bislang nur auf Tschechisch erschien und als erster von vier Teilen angelegt ist, mischt er Elemente aus der Kabbala mit einer Science-Fiction-Handlung.
Das Werk hat Sidon unter dem Pseudonym Chaim Cigan veröffentlicht, doch bereits nach kurzer Zeit wurde er als tatsächlicher Autor enttarnt. »Man kann es nicht verschweigen, dass sich für einen Rabbiner das Verfassen solcher Belletristik nicht ziemt«, begründete er danach in einem Interview mit der Zeitung Mlada Fronta Dnes seinen Versuch, unerkannt zu bleiben.
»Ich wollte schon vor einer Weile das Rabbineramt niederlegen, und früher oder später kommt es ohnehin dazu«, sagte er in diesem Gespräch – deshalb wolle er zu seinen Wurzeln zurückkehren und an seine Karriere als Autor anknüpfen. Als dann wenige Monate später die Turbulenzen in seinem Privatleben bekannt wurden, entschied er sich offenbar endgültig zum Rücktritt.
Charta 77 Karol Sidon ist in Tschechien einer der prominentesten Geistlichen. In der sozialistischen Zeit arbeitete er als Literaturkritiker, Autor und Verkäufer. Nachdem er die oppositionelle Charta 77 unterstützt hatte, wurde er vom Regime zum Heizer degradiert. 1978 konvertierte er zum Judentum und absolvierte im Heidelberger Exil seine Rabbinerausbildung. Unmittelbar nach der politischen Wende kam er zurück in seine Heimat, wo er 1992 sowohl Oberrabbiner der Prager Gemeinde als auch des ganzen Landes wurde. Er zählte zu den engen Wegbegleitern und Freunden des 2011 verstorbenen Präsidenten Václav Havel.
Zu seinem Abschied zog Sidon vor der Versammlung der Prager jüdischen Gemeinde eine Bilanz seiner Amtszeit: »Weniger als zwei Jahre nach der Samtenen Revolution war es nur schwer vorstellbar, dass sich die größte jüdische Gemeinde in Böhmen und Mähren, die trotzdem nur etwas mehr als 800 Mitglieder mit einem Altersdurchschnitt von 80 Jahren zählte, in die lebendige jüdische Gemeinschaft verwandeln könnte, wie wir sie heute kennen.«
Zugleich deutete Sidon an, dass man nun in eine entscheidende nächste Phase eintrete: »Auf den ersten Blick scheint es, als sei alles fertig und es genüge, umsichtig den aktuellen Stand zu bewahren. Das reicht aber nicht aus – wenn wir auf der Stelle treten, heben wir damit nur unter uns eine Grube aus, aus der wir nicht leicht herauskommen.« Es sei einfacher gewesen, die Gemeinde in einer Zeit zu führen, in der es eine klare Vision gegeben habe, als in der jetzigen Zeit, wo man Gefahr laufe, sich festzufahren. »Den Wechsel auf dem Posten des Oberrabbiners halte ich unter anderem deshalb für wichtig, weil unser neuer Oberrabbiner diese Aufgabe ganz anders angeht, als ich es mir vorstellen könnte.«
Streit In der Prager Gemeinde gärt seit Jahren ein Streit zwischen verschiedenen Gruppierungen – die Trennlinie verläuft weniger zwischen Orthodoxen und Liberalen als entlang persönlicher Reibereien. Der neue Rabbiner David Peter, der lange in Israel gelebt hat, arbeitet bereits seit 2011 in Prag. Er ist wie sein Vorgänger Sidon orthodox – und das, obwohl die Prager Gemeinde in ihrer großen Mehrheit liberal geprägt ist. In einem ersten Interview mit einer tschechischen Zeitung war Peter deshalb auch mit der Frage konfrontiert, ob es überhaupt Bedarf an einem orthodoxen Rabbiner gebe. »Meiner Meinung nach hängt es davon ab, was für ein Mensch der Rabbiner ist und wie er mit seiner Gemeinde leben will«, antwortete er.
In jedem Fall dürfte der Wechsel vom jahrzehntelang unangefochtenen Karol Sidon zum 38-jährigen David Peter die Gemeinde prägen. »Für Leute, die 80 oder 90 Jahre alt sind, bin ich so etwas wie ein Enkel, der ihnen zuhört«, hat Peter beobachtet: »Auch für 60-Jährige, die im Alter meiner Eltern sind, bin ich ein junger Mensch. Autorität baut man im Laufe der Zeit auf.«