Seit 15 Jahren stellen Meinungsforscher des polnischen Instituts TNS OBOP regelmäßig die Frage: »Was verbinden Sie in erster Linie mit ›Auschwitz‹?« Dieses Jahr antwortete zum ersten Mal seit 1995 die Mehrheit der befragten Polen: »In Auschwitz fand die Vernichtung der Juden statt.« Was für die meisten Westeuropäer längst zum historischen Grundwissen gehört, ist in Polen eine Sensation. Für den Soziologen Marek Kucia, der die Umfrage leitet, kommt das Ergebnis einer »mentalen Revolution« gleich.
Noch vor 15 Jahren waren 47 Prozent der Befragten überzeugt, dass das Vernichtungslager Auschwitz vor allem »ein Ort des polnischen Martyriums« gewesen sei. Nur acht Prozent brachten Auschwitz mit dem Holocaust in Verbindung. Obwohl Polen schon 1989 die kommunistische Diktatur abgestreift hatte, wirkte die jahrelange Zensur und Indoktrination noch nach. »In den 90er-Jahren gab es noch eine starke Rivalität um den Opferstatus in Auschwitz«, erklärt Kucia. »Heute erkennen die meisten Polen an, dass in Auschwitz beides stattfand: die Vernichtung der Juden und das Martyrium der Polen.« Die Opferkonkurrenz von einst sei beigelegt.
Stacheldraht Die Deutschen, die 1939 Polen überfallen hatten, legten Mitte 1940 im oberschlesischen Ort Oswiecim das Konzentrationslager Auschwitz an. Dort, zwischen Kattowitz und Krakau, fanden die Besatzer Kasernen und Ställe aus der Zeit der österreichischen Herrschaft vor. Die ersten Gefangenen, allesamt polnische Widerstandskämpfer und Intellektuelle, mussten das Lager ausbauen, Stacheldrahtzäune ziehen und die Hundelaufspuren anlegen.
Ein Häftling hatte die berüchtigte Torinschrift »Arbeit macht frei« zu schmieden. Der vor einigen Wochen gestohlene Schriftzug ist zwar inzwischen wieder aufgetaucht. Da er in drei Teile zersägt wurde, muss er aber erst wieder zusammengeschweißt werden. Bis dahin bleibt über dem Tor eine fünf Meter lange Kopie hängen.
Drei Kilometer weiter, im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, ermordeten die Deutschen rund eine Million Juden aus ganz Europa, über 20.000 Sinti und Roma sowie rund 15.000 russische Kriegsgefangene. Die meisten christlichen Polen hingegen, rund 70.000, kamen im »Stammlager« ums Leben, dem Verwaltungszentrum aller Auschwitz-Konzentrationslager.
Die aktuelle Meinungsumfrage zeigt, dass sowohl die Schulbildung wie auch die Medien in Polen versagt haben, wenn es um die Vermittlung von historischem Grundwissen geht. So sind die meisten der Befragten überzeugt, dass in Auschwitz nicht eine Million Menschen, sondern sechs Millionen ermordet wurden, die Gesamtzahl der ermordeten Juden Europas. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass über andere Vernichtungslager wie Treblinka, Sobibor, Kulmhof oder Belzec nur selten berichtet wird.
Die Frage, für wen die Erinnerung an Auschwitz wichtig sei, beantworten zwar über 60 Prozent der Befragten mit »für die ganze Welt«, allerdings denken nur 20 Prozent der Polen, dass das Gedenken für Juden wichtig sei. Rund ein Viertel hält sie allerdings wichtig für die Polen selbst.
nationalismus Die polnisch-jüdische Historikerin Zofia Wojcicka, die ein Buch über die Erinnerungspolitik der polnischen Kommunisten 1944 bis 1950 geschrieben hat, freut sich über die Umfrage, die den allmählichen Wandel des Geschichtsbildes in Polen dokumentiert. »Die nationalistisch anmutende Konzentration auf das polnische Leid in Auschwitz hatte weniger mit dem tatsächlichen Nationalismus der Polen zu tun als mit ihrer Isolation hinter dem Eisernen Vorhang.« Die kommunistische Zensur habe über Jahrzehnte hinweg keine andere Erzählung zugelassen. Juden seien öffentlich nicht zu Wort gekommen.
Dies habe sich erst 1989 geändert. »Die Umfrage zeigt, dass sich in Polen langsam das Geschichtsbild durchsetzt, das der historischen Wahrheit entspricht«, so Woycicka. Nachholbedarf sieht sie aber auch im Ausland: Der Eiserne Vorhang habe auf der anderen Seite ebenfalls Wissenslücken entstehen lassen. »Im Westen, auch in Israel, weiß kaum jemand, dass in Auschwitz auch nichtjüdische Polen ermordet wurden.«
Eine andere Umfrage wird schon seit 1975 immer wieder durchgeführt: »Was denken und fühlen Polen, wenn sie an Juden denken?« Zunächst wurden nur die Sympathiewerte vermerkt. 1975 spürten gerade mal vier Prozent der Polen eine gewisse Sympathie gegenüber Juden. Das war zugleich der absolute Tiefpunkt. Ab da zeigte das Sympathiethermometer Jahr für Jahr ein paar Wärmegrade mehr an. Der Schock kam 1993, als zum ersten Mal auch die Abneigung gegenüber Juden gemessen wurde: Über die Hälfte der Befragten hatte ihr Kreuzchen beim Satz »Juden sind mir unsympathisch« gemacht. Ähnlich fiel das Ergebnis 2005 aus. Zugleich erklärten knapp 60 Prozent der Befragten, dass »die Juden, so wie früher, zu viel Einfluss in der Welt« hätten. 2005 waren Parlamentswahlen in Polen. Die nationalkonservative Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) gewann mit ihrer Angstmache vor den angeblichen inneren Feinden Polens, die sich zu einem »Geheimbund« zusammengeschlossen hätten und Polen ins Verderben reißen wollten. Das Wort »Jude« fiel zwar nicht in der Wahlkampagne, aber die Botschaft fiel auch so auf fruchtbaren Boden.
Seither ist die Sympathiekurve wieder angestiegen, während die Abneigung nachließ. Der größte Sprung war nach den vorgezogenen Parlamentswahlen 2007 zu verzeichnen, als die Abneigung der Polen gegenüber Juden auf 32 Prozent sank, die Sympathiewerte hingegen um elf Prozentpunkte anstiegen – von 23 Prozent auf 34 Prozent. Der Warschauer Soziologe Antoni Sulek ist überzeugt, dass das Bild, das sich Polen von Juden machten, weitgehend dem polnischen Selbstbild entspreche. Je sympathischer die Polen sich selbst fänden, um so sympathischer fänden sie auch Juden. Das werde noch eine gewisse Zeit dauern. Aber die Prognose sei gut.