Seit einigen Wochen hat das jüdische Gemeindezentrum Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) in Buenos Aires eine neue Fassade. Farbenfroh zieht sich ein Tetris-Muster aus Drei- und Vierecken auf mehreren Seiten um das achtstöckige Gebäude in der Calle Pasteur 633 in Once, einem Viertel der argentinischen Hauptstadt. Das Design repräsentiere den Geist und die vielfältigen Aktivitäten der AMIA, sagte der geschäftsführende Direktor Daniel Pomerantz bei der lichtvollen Einweihungsfeier Ende Mai
Aber Pomerantz hat auch die dunkelste Stunde des Gemeindezentrums am eigenen Leib miterlebt. Am 18. Juli 1994 arbeitete er in der AMIA, als kurz vor zehn Uhr morgens ein mit Sprengstoff beladener Transporter in das Gebäude raste und explodierte. 85 Menschen wurden getötet, mehr als 300 verletzt. Der Bombenanschlag war der tödlichste Angriff auf Juden seit dem Holocaust – bis zu den Massakern von Hamas-Terroristen in Israel am 7. Oktober 2023.
Die neue Fassade der AMIA ist Teil der Feierlichkeiten zum 130-jährigen Bestehen der Institution. »Wir erleben nun zwei wichtige Daten – 30 Jahre seit dem Bombenanschlag und 130 Jahre Leben«, so Pomerantz weiter. Letzteres hat gewonnen. »Dieses künstlerische Wandgemälde zeigt die Vielfalt unserer Aktivitäten, unsere Intensität und unsere Farben.«
Gegründet wurde die AMIA 1894 zur Unterstützung von Einwanderern aus Europa. Heute ist es eine der größten Organisationen für die rund 200.000 argentinischen Juden, die größte jüdische Gemeinde des Kontinents. Das Zentrum bietet soziale Dienste und vielfältige Veranstaltungen an.
Daniel Peroni, ein argentinischer Künstler, hat »Colors of AMIA« (Farben der AMIA) so gestaltet, dass es sich mit zwei prominenten Werken überschneidet, die im Gedenken an die Opfer des Bombenanschlags in Auftrag gegeben wurden. Vier Jahre nach dem Anschlag hatte der israelische Künstler Yaacov Agam eine farbenfrohe Skulptur im Innenhof des wiederaufgebauten Gemeindezentrums enthüllt; im Jahr 2018 hatte der Künstler Martin Ron ein Wandbild mit dem Titel »The Wall of Memory« (Wand der Erinnerung) gemalt. »Colors« verbindet sie.
Die Kontroverse darüber, wer für den Anschlag verantwortlich gemacht werden soll, beschäftigt die argentinische Gesellschaft auch nach 30 Jahren noch. Bis heute ist das Attentat nicht vollständig aufgeklärt. Als Urheber gilt die vom Iran unterstützte Hisbollah. Beschlossen worden seien die Anschlagspläne aber an höchster Stelle in Teheran, gab eine argentinische Untersuchungskommission bekannt.
Die Komplizenschaft in Argentinien selbst ist dagegen nie ausreichend beleuchtet worden. Anfang 2013 hatten Argentiniens damalige Regierung unter Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und der Iran in einem Memorandum vereinbart, den Terroranschlag gemeinsam aufzuklären. Dies rief seinerzeit heftige Reaktionen und Ablehnung in der jüdischen Gemeinde hervor. Würde es doch den Bock zum Gärtner machen.
Mitte Januar 2015 wurde der ermittelnde Sonderstaatsanwalt Alberto Nisman mit einer Schusswunde tot in seiner Wohnung aufgefunden. Bis heute ist nicht zweifelsfrei geklärt, ob es sich um Mord oder Suizid gehandelt hat. In einem Bericht hatte Nisman Präsidentin Kirchner vorgeworfen, aus wirtschaftlichen und diplomatischen Interessen die Verfolgung der Hauptverdächtigen des Anschlags zu sabotieren. Hintergrund des Iran-Deals seien geplante Ölgeschäfte. Die Regierung von Kirchners Nachfolger Präsident Mauricio Macri hob das Memorandum kurz nach Amtsantritt 2015 auf.
Unter dem Motto »Der Terrorismus geht weiter, die Straflosigkeit auch« und mit einem gemeinsamen Aufruf der jüdischen Gemeindeverbände AMIA, DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas) und der Angehörigen der Opfer beginnt an diesem Donnerstag um Punkt 9.53 Uhr, dem Zeitpunkt des Anschlags, die zentrale Zeremonie zum Gedenken an die 85 Menschen, die vor 30 Jahren bei dem tödlichsten Anschlag in der Geschichte Argentiniens ermordet wurden.
»Die argentinische Demokratie, die seit 40 Jahren besteht, hat die enorme Aufgabe, Gerechtigkeit zu schaffen. Das Ausmaß an kolossaler Zerstörung und Tod, und dass die Verantwortlichen nie bestraft oder zur Rechenschaft gezogen wurden, kann nicht einfach so hingenommen werden«, sagt AMIA-Präsident Amos Linetzky. »Die Wahrheit steht in den Akten. Was fehlt, sind Gerechtigkeit und konkrete Antworten auf so viele Fragen. Es ist unverständlich, warum eine Regierung in den 90er-Jahren zwei Anschläge hintereinander zuließ, die sehr ähnliche Merkmale aufwiesen.«
Zwei Jahre vor dem Anschlag auf die AMIA war am 17. März 1992 die israelische Botschaft in Buenos Aires angegriffen worden. Dabei wurden 29 Menschen getötet und 242 verletzt. Auch dafür soll die Hisbollah verantwortlich sein.
Im April dieses Jahres hat das Bundeskassationsgericht das Attentat auf die AMIA als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und schwere Verletzung der Menschenrechte eingestuft. Einmal mehr bestätigte die Justiz, dass iranische Staatsbürger an dem brutalen Anschlag beteiligt waren. Mitte Juni dann verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den argentinischen Staat für seine Rolle vor und nach dem Attentat.
Die Behörden hätten weder ausreichend Maßnahmen ergriffen, um den Anschlag zu verhindern, noch umfassende Ermittlungen eingeleitet, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen, so die Richter. Die Klage war bereits vor 25 Jahren von der Bürgervereinigung Memoria Activa gegen den argentinischen Staat angestrengt worden.
»Wir haben keine angemessenen Gesetze oder spezialisierten Richter wie in anderen Ländern, die den Austausch von Informationen mit anderen Ermittlungsbehörden erlauben«, sagt Linetzky. »Wir haben die gleiche Strafprozessordnung wie vor 30 Jahren. Es gibt eine Staatsanwaltschaft, die nur in diesem Fall ermittelt, aber immer noch nicht in der Lage ist, Antworten zu geben.«
Linetzky wiederholt die Forderung nach Aufklärung. »Die Zeit vergeht, und wir sehen keine Fortschritte bei der Untersuchung des schlimmsten Anschlags, den der internationale Terrorismus in unserem Land verübt hat«, sagt der AMIA-Präsident. »Ein neuer Jahrestag, und wir müssen die Tatsache anprangern, dass wir weiterhin mit Straflosigkeit leben müssen.«