Plaza Alemania, ein kleiner Park in Buenos Aires, an einem warmen Sommerabend vor wenigen Wochen. Am 18. Januar 2015 war der argentinische Staatsanwalt Alberto Nisman mit einer Kugel im Kopf in seiner Wohnung gefunden worden. Ein Jahr später ehren hier mehrere Tausend Menschen den Toten und fordern Aufklärung. »Ich bin hier, weil ich Gerechtigkeit will. Man weiß immer noch nicht, wie Nisman gestorben ist«, sagt die Rentnerin Noemi Sedaca. »Verdad y justicia«, Wahrheit und Gerechtigkeit, skandieren die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung immer wieder, dann zünden sie Kerzen an.
Auch wenn die Justiz noch keine Ermittlungsergebnisse vorgelegt hat, zweifelt Noemi Sedaca nicht daran, dass Alberto Nisman, der wegen des Attentats auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA von 1994 ermittelte, ermordet wurde. Als Urheber hat die Argentinierin die damalige Regierung von Cristina Kirchner ausgemacht. Viele Menschen in Argentinien denken ähnlich. »Ich habe keinen Zweifel«, sagt der 15-jährige Andrés, »dass man Nisman umgebracht hat, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er hatte sich mit den Mächtigen angelegt.«
Verschleierung Zur Erinnerung: Wenige Tage vor seinem Tod hatte der AMIA-Sonderermittler überraschend die Präsidentin angeklagt. Er warf Kirchner Verschleierung vor – sie habe der Islamischen Republik Iran Straffreiheit ermöglichen wollen. Argentiniens Justiz und auch seine Regierungen hatten jahrelang den Iran beschuldigt, für den Anschlag auf AMIA verantwortlich zu sein. Vergeblich forderten sie die Auslieferung der iranischen Verdächtigen. Doch 2013 vereinbarte Kirchners Regierung mit Teheran überraschend die Zusammenarbeit bei der Aufklärung – in einem in Argentinien höchst umstrittenen Memorandum.
Argentiniens neuer Präsident Mauricio Macri hat die Vereinbarung nun endgültig fallen lassen – zur Genugtuung von AMIA und DAIA, dem Dachverband jüdischer Organisationen in Argentinien. »Das Memorandum war nicht der richtige Weg, um die Wahrheit über das Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum herauszufinden und die Schuldigen zu bestrafen«, urteilt DAIA-Präsident Ariel Cohen Sabban.
Die jüdische Gemeinschaft schöpft nach dem Regierungswechsel vorsichtige Hoffnung, dass in die Ermittlungen zum Tod Alberto Nismans und zum Terrorakt gegen die AMIA Bewegung kommen könnte. Dass der Liberalkonservative Macri im Januar die beiden Töchter Nismans empfing, sahen viele als wichtige Geste. Die Regierung kündigte auch die Öffnung von Archiven an, die Informationen über den Sonderermittler und seine Arbeit enthalten könnten.
geheimdienst Außerdem sollen Geheimdienstmitarbeiter gegenüber der Justiz frei aussagen können. Alberto Nisman unterhielt enge – Kritiker sagen: zu enge – Kontakte zum argentinischen Geheimdienst. Dass der Staatsanwalt von Agenten oder Ex-Agenten ermordet wurde, ist eine der vielen Thesen, über die die Argentinier spekulieren. Auch ein Selbstmord, möglicherweise erzwungen, kann nicht ausgeschlossen werden.
Wie auch immer Nisman starb – sein Tod habe wohl mit seiner Aufgabe zu tun gehabt, meint Mario Cimadevilla, Leiter der neuen AMIA-Sondereinheit der Regierung. »Falls Nisman sich das Leben genommen hat, hing das sicher mit seiner Arbeit als Sonderermittler zusammen. Und falls er umgebracht wurde, dann wohl auch wegen seiner Ermittlungen.«
Alberto Nismans Ex-Frau Sandra Arroyo Salgado, von Beruf Richterin, hat öffentlich immer wieder die Überzeugung geäußert, dass der AMIA-Sonderermittler Opfer eines Mordes wurde. Die Mutter von Nismans minderjährigen Töchtern tritt als Klägerin auf.
mordthese Im Dezember wurde Viviana Fein, die Staatsanwältin, die fast ein Jahr lang ergebnislos ermittelte, vom Fall Nisman entbunden. Seitdem leitet Richterin Fabiana Palmaghini die Ermittlungen. Sie scheint die Mordthese ernster zu nehmen und genauer untersuchen zu wollen als ihre Vorgängerin.
DAIA-Präsident Cohen Sabban wünscht sich baldige Fortschritte: »Argentiniens Gesellschaft und die jüdische Gemeinschaft, wir brauchen eine Antwort auf die Frage, wie Alberto Nisman starb – der Ermittler, der am meisten über das Attentat auf die AMIA wusste.«
Der Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in der Calle Pasteur mit 85 Toten und rund 300 Verletzten jährt sich im Juli zum 22. Mal. Seit mehr als zwei Jahrzehnten kämpfen die Angehörigen und Überlebenden vergeblich um Aufklärung. Eine von ihnen ist Sofía Guterman, die bei dem Anschlag ihre Tochter Andrea verlor. »Bisher hat keine argentinische Regierung die Aufklärung vorangebracht. Ich vermute, dass die neue Regierung sich bemühen wird. Aber nach mehr als 20 Jahren Straflosigkeit sehe ich immer weniger Chancen auf Gerechtigkeit.«
anklagebank Guterman glaubt, dass der Iran am Tod ihrer Tochter schuld ist, aber sie kann sich kaum vorstellen, die Verantwortlichen eines Tages in Argentinien auf der Anklagebank zu sehen. Daher hält sie einen Prozess in Abwesenheit der Angeklagten, vor Kurzem von der neuen Regierung ins Gespräch gebracht, für einen möglichen Weg: »Er hätte natürlich eine eher symbolische Bedeutung.«
Andere Angehörige von Anschlagsopfern lehnen diesen Weg strikt ab. Ein Prozess in Abwesenheit wäre kein Prozess, sondern »die Simulation eines Prozesses«, kritisierte die Angehörigenvereinigung APEMIA. Ziel wäre nicht, die Wahrheit herauszufinden und Gerechtigkeit walten zu lassen, sondern das Thema des Attentats ein für alle Mal ad acta zu legen, schrieben Laura Ginsberg und Pablo Gitter, die Sprecher der Gruppe, in einem Beitrag für die Tageszeitung La Nación. Seit Jahren fordern sie die Öffnung aller geheimen Staatsarchive zum Anschlag auf die AMIA und deren Untersuchung durch eine unabhängige Kommission.
APEMIA hat einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeitet, der von mehreren Kongressabgeordneten unterstützt wird. Die Regierung Macri erwägt nun tatsächlich die Einsetzung einer solchen Untersuchungskommission, hat aber ein paar Änderungen am Projekt von APEMIA vorgeschlagen, welche die Angehörigen nun prüfen wollen.