Etwa 1200 Meter hoch in den italienischen Alpen steht ein imposantes modernes Bauwerk», heißt es in einem Bericht der Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) aus dem Jahr 1948. An den Wänden des 1933 in der norditalienischen Kleinstadt Selvino erbauten Hauses waren die Namen von Benito Mussolini und seinem Außenminister Galeazzo Ciano sowie anderen hochrangigen Faschisten eingraviert.
Als im Mai 1945 die deutsche Besatzung und die Herrschaft Mussolinis endgültig vorbei waren, wurde das als «Modell eines faschistischen Jugendzentrums» errichtete Gebäude beschlagnahmt und verwandelte sich kurz darauf in einen Zufluchtsort für Überlebende der Schoa: «… ein Heim für jüdische Jungen und Mädchen, die von den Komplizen des Duces zu Waisen gemacht wurden», ist in dem AJDC-Report über diese einzigartige Einrichtung zu lesen.
Unterernährt Eines dieser Waisenkinder war Dov Zugman, der 1930 im damals noch polnischen Sokal (heute Ukraine) geboren wurde. Nach dem Einmarsch errichteten die deutschen Besatzer ein Ghetto, in dem Tausende Juden an Seuchen und Unterernährung starben. Bis zur endgültigen Liquidierung im Mai 1943 fanden regelmäßig Massenerschießungen oder Deportationen ins Vernichtungslager Belzec statt.
Nur wenigen gelang es, wie Dov Zugman, in die Wälder zu fliehen. Sein Vater und seine Mutter wurden ermordet. Auf sich allein gestellt, wanderte der Junge von Dorf zu Dorf und fand gelegentlich Unterschlupf bei Bauern. Nachdem die Rote Armee weite Teile Osteuropas befreit hatte, gelang es Dov, sich bis nach Norditalien durchzuschlagen. Dort wurde der damals 15-Jährige von Soldaten der Jewish Brigade, einer britischen Einheit von jüdischen Soldaten aus Palästina, aufgenommen und später in das Kinderheim nach Selvino gebracht.
Es gab unzählige solcher jungen Schoa-Überlebenden, die auf ein ähnliches Schicksal zurückblickten. So auch Naphtali, der schon als Kind bei den Partisanen kämpfte, oder die Zwillinge Sarah und Mirijam, die mit christlichen Papieren überlebten.
Zwischen Sommer 1945 und Herbst 1948 fanden rund 800 dieser an Leib und Seele verletzten Kinder und Jugendlichen im Waisenhaus in Selvino ein behütetes und liebevolles Zuhause. «Wenn man ihnen zuhört, fragt man sich, ob das Wort Familie nicht eine bessere Bezeichnung für diese Gemeinschaft ist als der übliche Begriff Kinderheim», notierte ein AJDC-Mitarbeiter.
Eine Abordnung schwedischer Kinderärzte, die dem Heim einen Besuch abstatteten, bezeichnete Selvino als «Kinderparadies» und als eine der «schönsten dieser Einrichtungen» für elternlose Jungen und Mädchen in ganz Europa.
entwurzelt Das Zentrum unterstand der Verwaltung des AJDC und wurde von der Hilfsorganisation auch finanziert. Die Betreuer taten alles, um den entwurzelten und verlassenen jüdischen Kindern den Weg zurück ins Leben zu ermöglichen.
Es gab eine eigene Schule, in der die Jungen und Mädchen intensiv unterrichtet wurden, um die verlorenen Jahre ohne Bildung und Erziehung aufzuholen. «Den Kindern steht ein vollständiges Lehrprogramm zur Verfügung, das den gesamten Bereich der Grund- und Sekundarschulbildung abdeckt. Sogar moderne Chemie- und Physiklabors wurden eingerichtet», berichtete ein Journalist.
Ein Teil des Unterrichts war der hebräischen und jüdischen Geschichte sowie den religiösen Bräuchen gewidmet. Dieses breite Angebot sollte helfen, ihr «Selbstvertrauen als Mitglieder eines Volkes wiederzugewinnen, das fest in der Geschichte verwurzelt ist und eine stolze Kultur besitzt».
Zusätzlich wurde in den Lehrwerkstätten eine berufliche Ausbildung angeboten. Die Mädchen lernten Handarbeiten wie Nähen und Stricken, die Jungen konnten Schreiner- oder Buchbinderkurse besuchen.
In ihrer Freizeit tobten sich die Kinder und Jugendlichen beim Sport aus. Bei den Jungen war der Fußball am beliebtesten. Und alle Bewohner freuten sich auf den Winter, wenn es reichlich Schnee gab und Schlitten und Ski gefahren werden konnte. Auch standen Klubräume zur Verfügung, in denen Radio gehört, Theater gespielt oder musiziert wurde.
Flucht Trotz allem waren viele nur von einer Idee beseelt: ihr zukünftiges Leben in Eretz Israel zu verbringen. Die erste Gruppe machte sich im Juni 1946 auf den Weg. In der toskanischen Hafenstadt Carrara bestiegen die Kinder im Schutz der Dunkelheit die «Katriel Yaffe».
Insgesamt befanden sich 600 jüdische Displaced Persons an Bord des illegalen Emigrantenschiffs. Doch der Dampfer wurde von der britischen Marine abgefangen, und man sperrte die Passagiere in Internierungslager auf der Insel Zypern. Immer wieder versuchten Gruppen, illegal nach Palästina zu gelangen – doch vergeblich. Erst nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 war eine freie Einreise möglich.
Die meisten wanderten später nach Eretz Israel aus und wurden Mitglied in einem Kibbuz.
Die letzte Kindergruppe verließ Selvino im November desselben Jahres. Im Hafen von Neapel gingen 40 Jungen und Mädchen mit ihren Betreuern an Bord des griechischen Dampfers «Theta», der sie in wenigen Tagen nach Israel brachte.
Die Mehrheit der Selvino-Kinder wurde später Mitglied in einem Kibbuz, viele von ihnen fanden ein neues Zuhause in der Kollektivsiedlung Zeelim in der Nähe der südisraelischen Stadt Beer Sheva.
Einige wenige, vor allem Jugendliche, suchten ihr Glück jedoch auch in Nordamerika. Im Rahmen des War Orphans Project, in dem die kanadische Regierung es 1000 jungen Schoa-Überlebenden im Alter bis zu 18 Jahren erlaubte, einzuwandern, erreichte Dov Zugman am 21. März 1948 an Bord der «Nea Hellas» den Hafen von Halifax. Von dort ging es weiter nach Montreal.
In der franko-kanadischen Metropole wurde Dov, der fortan Dave hieß, von einer Pflegefamilie aufgenommen und besuchte die Highschool, an der er zwei Jahre später seinen Abschluss mit Auszeichnung machte. Da ein Onkel in New York lebte, bemühte sich Dave um ein Visum für die Vereinigten Staaten. Am 30. Juni 1950 konnte er an der Pennsylvania Station in Manhattan seine einzigen verbliebenen Verwandten in die Arme schließen.