Den einen sieht man ihren Beruf an. Den anderen ihre Berufung. Bei Rajiv scheint es Berufung zu sein. Der Mann trägt sein Amt mit Würde – um nicht zu sagen mit Stolz. Und das zu Recht, denn er ist der Wächter über das Reich der jüdischen Toten von Penang. Zum Beispiel über Lizzie, das einst fröhliche Mädchen mit der Stupsnase im Gesicht und den olivgrünen Augen, die meist von dunkelbraunen Haarsträhnen verdeckt blieben.
Vor langer Zeit lebte Lizzie, die jüngste Tochter eines Rabbiners, in einem Schtetl an der Grenze zum k.u.k. Kronland Bukowina. Bereits in ihrer Kindheit, so ist überliefert, träumte das Mädchen davon, dereinst die Welt außerhalb ihrer eigenen zu erkunden. Die Möglichkeiten dazu boten sich ihr schneller als erhofft. Von ihr blieb eine Grabinschrift: Lizzie kam am 4. August 1871 in Rumänien zur Welt und heiratete einen gewissen Julius Schwartz. Doch bereits im Alter von 42 Jahren und acht Monaten starb sie in Penang.
familienmitglieder Weder Lizzie noch die anderen, von Rajiv fast wie Familienmitglieder umsorgten Verstorbenen gehören, von der Religion her betrachtet, zu »seinen Leuten«. Doch das stört den 60-Jährigen nicht, und wohl noch weniger die mehr als 100 toten Seelen, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Rajiv ist Hindu, in Penang geboren, wohin seine Vorfahren aus Indien zugewandert sind. Über die Schar der von ihm Betreuten spricht er, als ob sie seiner eigenen Glaubensrichtung angehörten: Die Engländerin Shoshan Levi etwa, deren Grabstein die Jahreszahl 1835 ziert und die, so Rajiv, vor mehr als 200 Jahren der jüdischen Gemeinde dieses Stück Land unter der Sonne geschenkt hat.
Oder David Mordecai, ehemaliger Hotelmanager des Luxushotels Eastern & Oriental, das von den bekannten Sarkies-Brüdern aus Isfahan im Kolonialstil erbaut wurde. Mordecai ist der letzte Jude, der an diesem Ort kurz vor seinem 90. Geburtstag im Jahre 2011 begraben wurde. Und dann natürlich Lizzie, die Rabbinertochter.
HErkunft Die ersten Juden, die laut historischen Quellen auf der malaiischen Halbinsel ihre Zelte aufschlugen, stammten aus Indien, wohin sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Persien vertrieben wurden. Im Gefolge eines blühenden Handels in britisch dominierten Gebieten Asiens suchten auch die Kinder angesehener sefardischer Familien wie die der Solomons und Meyers weiter ostwärts, in Singapur und dem nördlich gelegenen Penang, neue Märke zu erschließen.
Einer von ihnen war ein gewisser Ezekiel Menasseh, von dem es hieß, dass er trotz Isolation der jüdischen Gemeinde seinen orthodoxen Traditionen treu blieb: »Er stand jeden Morgen zwischen vier und fünf Uhr auf und rezitierte anschließend die täglichen Gebete. Auch pflegte er einen koscheren Haushalt und hielt einen eigenen Vorrat an Hühnern.« So beschrieb einer der zionistischen Wortführer, der Journalist Israel Cohen, anlässlich seiner Reise nach Fernost in den 20er-Jahren seine Begegnung mit Menasseh.
Vor Ausbruch des Pazifikkriegs im Jahre 1941 lebten 30 Juden in Penang. Die kleine Gemeinde konnte sich sogar eine Synagoge leisten. Die steht an der Nagore Road, ist heute jedoch längst zweckentfremdet. Für Feiertage und wichtige Anlässe reiste eigens ein Rabbiner aus Singapur an. Als die Japaner die Stadt einnahmen, gelang einer Mehrzahl der Juden die Flucht nach Australien, Eretz Israel und in andere Länder.
Antisemitismus Gegen Ende der 60er-Jahre, Malaysia war mittlerweile unabhängig geworden, wohnten gerade noch drei jüdische Familien in Penang. Und wiederum einige Jahre später hörte die Gemeinde auf zu existieren: Ministerpräsident Mahathirs öffentlich zur Schau getragener Antisemitismus machte es Juden unmöglich, ihre Zukunft in diesem Land zu planen.
Über die Anzahl von Juden im heutigen Malaysia gibt es keine statistischen Angaben. Dies liegt an der Weigerung der Regierung in Kuala Lumpur, eine jüdische Präsenz im Land überhaupt gelten zu lassen.
Zudem erkennt Malaysia den Staat Israel nicht an und verbietet seinen Bürgern entsprechend, dorthin zu reisen. In regelmäßigen Abständen erscheinen überdies antisemitische Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, wobei diese mehr mit Auseinandersetzungen unter Politikern als mit der jüdischen Religion an sich zu tun haben. Der Rabbinertochter Lizzie blieb diese Entwicklung erspart, denn zu ihren Lebzeiten galt der hiesige Islam als beispielhaft tolerant.
charme Die Jalan Yahudi (Judenstraße), wo sich der jüdische Friedhof befindet, heißt heute Jalan Zainal Abidin, benannt nach einem muslimischen Schriftsteller und Linguisten. Sie ist wenig befahren im Vergleich zu anderen Verkehrsadern in dieser Weltkulturerbe-Stadt, die kokett mit dem Charme kolonialer Patina spielt.
Die meisten Besucher kommen nicht wegen dieses kleinen Stücks Land hierher. Es handelt sich auch nicht um einen imposanten jüdischen Friedhof wie beispielsweise in Prag, und überhaupt liegt hier keine berühmte Person aus der Kultur- und Geisteswelt des Judentums begraben. Nicht einmal der Chinese, der vor seinem Haus an der Straßenecke neben dem Friedhof sitzt und seit mehr als 40 Jahren hier wohnt, kennt diesen Ort. Ein Friedhof? Vielleicht. Aber was bedeutet »jüdisch«? Und nein, von einer Lizzie hat er nie etwas gehört.
Schatten Ein tropischer Windzug bläst vom Meer hinein in die Palmenkronen, deren stachelige Blätter sich ehrfürchtig zu den pyramidenförmigen Gräbern hinab beugen. Die Schatten werden länger und legen sich sanft über Kieselsteine und einige wenige Grasbüschel, um schließlich langsam, aber beharrlich an den steinernen Zeugen vergangener Leben hinaufzukriechen. Gerade so, als ob sie die Nähe menschlicher Wesen suchten und den ewig Schlafenden die Rätsel ihrer verschlungenen Wege entlocken wollten.
Aber ob es in Penang in absehbarer Zeit wieder jüdisches Leben und nicht nur einen jüdischen Friedhof mit einem buddhistischen Friedhofswärter geben wird, bleibt derzeit völlig offen.