Als das russische Militär am 24. Februar 2022 begann, Ziele in der gesamten Ukraine unter massiven Beschuss zu nehmen, sah Europa sich plötzlich mit der größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Zwei Jahre später leben nach wie vor rund 4,2 Millionen Ukrainer in den Ländern der EU. Die allermeisten von ihnen sind Frauen und Minderjährige. Männer im wehrfähigen Alter dürfen die Ukraine offiziell nicht verlassen.
Nur wenige Tage nach dem russischen Überfall einigte sich die EU darauf, ihre seit dem jugoslawischen Bürgerkrieg bestehende Richtlinie über den vorübergehenden Schutz zu aktivieren, um den Geflüchteten schnelle Hilfe anzubieten und zu verhindern, dass sie langwierige Asylverfahren durchlaufen müssen. Auch zahlreiche nichtstaatliche Organisationen spielen eine zentrale Rolle dabei. Eine davon ist HIAS Europe. Der Ableger der 1881 als Hebrew Immigrant Aid Society in den USA gegründeten und mittlerweile weltweit aktiven jüdischen Flüchtlingshilfsorganisation arbeitet eng mit den jüdischen Gemeinden in Europa zusammen.
Freiwillige aus den jüdischen Gemeinden vor Ort
»Allein in Warschau leben aktuell rund 110.000 ukrainische Flüchtlinge«, sagt HIAS Europe-Geschäftsführer Ilan Cohn. Ihre Integration ist keine leichte Aufgabe. In zwölf europäischen Ländern hat Cohns Organisation sogenannte Welcome Circles ins Leben gerufen. Die von hauptamtlichen Mitarbeitern koordinierten Unterstützerkreise bestehen aus Freiwilligen aus den jüdischen Gemeinden vor Ort.
Ziel ist es, den Geflüchteten bei der Integration zu helfen.
Ziel ist es, den Geflüchteten bei der Integration zu helfen. »Das reicht von Behördengängen, Sprachunterricht, Unterstützung bei der Wohnungs- und Jobsuche bis hin zur Begleitung bei der Vorbereitung für die Führerscheinprüfung«, erläutert der HIAS Europe-Chef. Wert legt er darauf, dass die Welcome Circles nicht nur ad hoc, sondern auf Basis klarer, nachprüfbarer Standards arbeiteten. Mit der Resonanz ist Cohn sehr zufrieden.
Überall seien die Freiwilligen immer noch mit großem Engagement dabei. Die Angebote richteten sich auch an nichtjüdische Geflüchtete. 17 jüdische Gemeinden haben laut HIAS Europe bislang bei der Aufnahme und Integration von insgesamt mehr als 1100 Geflüchteten Hilfestellung geleistet. Binnenflüchtlinge in der Ukraine sowie in den Anrainerstaaten erhalten ebenfalls Unterstützung. Auch hier arbeiten HIAS Europe-Mitarbeiter mit jüdischen Gemeinden und Partnerorganisationen vor Ort zusammen.
Angst um die Angehörigen in der Heimat
Zwei Jahre nach Kriegsausbruch seien zwar viele ukrainische Geflüchtete in ihren Gastländern angekommen und hätten sich eingegliedert, sagt Cohn. Doch die Angst um die Angehörigen in der Heimat und die Sorge, dass die Ukraine womöglich den Krieg verlieren könnte, nage an vielen. Das führe dazu, dass das Thema psychosoziale Betreuung in den Vordergrund rücke. Auch die Integration in den Arbeitsmarkt und die berufliche Qualifizierung sind weiterhin wichtige Themen.
Dennoch zieht Cohn nach zwei Jahren eine eher positive Bilanz. »Die EU hat gezeigt, dass sie durchaus in der Lage ist, schnell und unbürokratisch auf die plötzliche Zuwanderung einer großen Zahl von Menschen zu reagieren.« Allerdings ist noch nicht klar, was mit ihnen langfristig passieren soll.
Cohn fordert Planungssicherheit: »Die Uhr tickt: In den nächsten Monaten müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den Ukrainern einen legalen Aufenthalt in der EU für 2025 und darüber hinaus zu sichern. Wenn kein einheitlicher Status auf europäischer Ebene mehr angeboten wird, werden mehrere Millionen Menschen zusätzlich in die schon jetzt sehr schlecht funktionierenden Asylsysteme einwandern. Oder es wird nationale Sonderregelungen und damit einen Flickenteppich geben.«