Seit Oktober 2022 wird Italiens Regierung erstmals von der Chefin einer post-faschistischen Partei, der Fratelli dʼItalia (FdI), angeführt. Von Anfang an versuchte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Juden im Land zu beruhigen: Sie verurteilte die Rassengesetze von 1938 und hatte, als sie im Dezember mit der Präsidentin der jüdischen Gemeinde Roms die Kerzen der Chanukkia zündete, sogar Tränen in den Augen. Dennoch hat sie nie auf das Symbol der dreifarbigen Flamme in Erinnerung an den Faschismus im Wappen ihrer Partei verzichtet.
Italiens Juden sind in ihrem Urteil gespalten: Die einen sehen in Meloni eine Verteidigerin Israels, die anderen stört, dass sie sich nur halbherzig von den faschistischen Wurzeln ihrer Partei distanziert. Wieder andere empfinden einen Zwiespalt, wie die Theaterregisseurin Andrée Ruth Shammah: »Angesichts ihrer Beziehungen nach Israel möchte ich dieser Regierung vertrauen, weil sie wirklich zu versuchen scheint, in dieser Hinsicht anders zu sein als frühere Regierungen, auch wenn niemand wirklich damit abgerechnet hat. Anderseits möchte ich morgen nicht bereuen, dass ich zu dieser Regierung keine ausreichende Distanz hatte.«
FLAMME Der Mailänder Journalist Enrico Sassoon kritisiert, dass Fratelli dʼItalia das Flammensymbol im Parteiwappen belässt. Angesichts der antifaschistischen Verfassung Italiens hält er die Entfernung für notwendig. »Der regierenden Rechten fehlt Homogenität, das rechte Lager hat keine angemessene Führungsschicht, daher schafft sie es nicht, sich als moderne konservative Stärke zu behaupten, ohne in die faschistische Vergangenheit zurückzufallen«, erklärt der Historiker Gadi Luzzatto Voghera. Da die Fratelli dʼItalia noch sehr abhängig ist von Militanz und der Unterstützung von Nostalgikern, könne sie nicht auf die Flamme verzichten.
Sandro Levi, ein in Mailand lebender Account-Manager, meint jedoch, dass die Regierung Meloni »das Antisemitismus-Problem« gut im Griff habe. Es sei vielmehr die Opposition, die »das Phantom des Faschismus« brauche, um zu überleben.
Die römische Autorin Lia Tagliacozzo äußert sich erstaunt, dass die Regierung ausgerechnet den ehemaligen Präfekten von Rom, Giuseppe Pecoraro, zum Beauftragten für den Kampf gegen Antisemitismus benannt hat: »Dies suggeriert, dass Antisemitismus ein Ordnungsproblem sei, anstatt ein kulturelles.«
Pecoraro hatte 2013 zunächst die – nach Protesten wieder suspendierte – öffentliche Beisetzung des ehemaligen SS-Mannes Erich Priebke erlaubt. Und nach einer antisemitischen Attacke gegen ausländische Fußballfans hatte er verstärkte Sicherheitsvorkehrungen für die jüdische Gemeinde abgelehnt.
Italiens Juden sind in ihrem Urteil gespalten: Die einen sehen in Meloni eine Verteidigerin Israels, die anderen stört, dass sie sich nur halbherzig von den faschistischen Wurzeln ihrer Partei distanziert.
Die Turiner Projektmanagerin Sara Levi Sacerdotti ärgert sich darüber, dass viele Juden sagen: »Lassen wir Meloni doch arbeiten.« Sie würden denken: »Die Rechte ist pro Israel und verteidigt daher uns als Juden.« Und Sergio Israel, ehemaliger Besitzer eines berühmten Jazzklubs in Mailand, merkt an: »Wie damals am Anfang des Faschismus fallen auch jetzt viele Juden auf die Regierung herein.«
FUNKTIONÄRE Repräsentanten der Gemeinden wollen sich im Gespräch mit Journalisten nicht darüber äußern, was sie von Meloni und ihren Ministern halten, denn sie müssen mit der Regierung zurechtkommen. Dario Calimani, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Venedig, bemerkte allerdings in einer Ansprache am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer der Schoa, im Teatro La Fenice, »eine kurze Missbilligung der Rassengesetze, ohne den Faschismus zu benennen«, sei viel einfacher, da könne man »die schöne und glorreiche Erbschaft (des Faschismus) beteuern«.
Viele Signale deuten auf einen schleichenden Prozess hin. So hängt etwa im Saal des Gemeinderats des norditalienischen Städtchens Belluno mit Plazet des Bürgermeisters – er ist Mitglied der rechtspopulistischen Lega, die mit Meloni die Landesregierung stellt – nach wie vor ein Plakat ohne jegliche Erklärung, das die Verbannung der Juden im Jahr 1519 feiert. Das Schild wurde 1938, nachdem die Rassengesetze in Kraft getreten waren, in den Gemeinderat gebracht. Der Venezianer Gemeindechef Calimani schrieb Anfang Februar im »Gazzettino di Belluno«: »Ich glaube nicht, dass es das Schild verdient, seinen aktuellen Ehrenplatz zu behalten.«
Dieses Klima, auch wenn Meloni es nicht befördert, öffnet antisemitischer Hetze Tür und Tor, wie es die neu gewählte Oppositionsführerin Elly Schlein erleben musste. Weil ihr Vater jüdisch ist, äußerte man sich am rechten Rand zu ihrer angeblich jüdischen Nase. Die Organisation »Osservatorio Antisemitismo« dokumentiert dies mit Sorge.
Mehrere jüdische Stimmen sehen jedoch nur »Intoleranzen im Regierungsgefüge, aber nicht spezifisch gegen Juden«. Der Historiker Luzzatto Voghera etwa erklärt: »Ich sehe kein Risiko einer Rückkehr zum Faschismus. Ich sehe dagegen perspektivisch eine Tendenz zur Annäherung an die Idee einer ›Democratura‹, wie sie in Ungarn zu funktionieren scheint.«
VERGANGENHEIT Italien hat seit jeher ein Problem mit seiner nicht aufgearbeiteten faschistischen Vergangenheit. Die Rechte heute ist zweifelsohne »neu«, aber wie viele Beobachter aufzeigen, sind ernst zu nehmende Elemente von Kontinuität mit der Vergangenheit vorhanden.
Dies führt in den Gemeinden zu verzweifelten Tönen. So traut Sandy Saban, in der Modebranche Mailands aktiv, der Regierung nicht, aber ebenso wenig der linken Opposition, die sie als zu pro-palästinensisch und daher anti-israelisch empfindet. »Indem die Politik wichtige Sozialthemen ignoriert, lässt sie freien Raum« und überlasse die Themen neofaschistischen Gruppierungen, reflektiert David Moscato, Gemeindemitglied in Mailand.
Auch weil Italien Mitglied der Europäischen Union ist, muss die Regierung dafür sorgen, den Antisemitismus zu bekämpfen und an die Vernichtung der Juden während der Schoa zu erinnern. Indem diese Regierung »den jüdischen Gemeinden Geld bietet«, versuche sie, »eine nicht präsentable Vergangenheit im Wohlfahrtsstaat zu ertränken«, und könne so ihre unterschwellige nationalistische Rhetorik beibehalten, sagt der Historiker Luzzatto Voghera.
Es sei also notwendig, wachsam zu bleiben, mahnen daher sowohl Lia Tagliacozzo als auch Enrico Sassoon. Es gebe zurzeit keine Gefahr, dass der Faschismus zurückkehrt, aber das Undenkbare könnte sich bald als möglich herausstellen.